Ich erfuhr auch mehr über meine Nachbarn.
Ian und Kyle teilten sich die Höhle mit den beiden echten über den Eingang gelehnten Türen auf meinem Flur. Ian hatte sich aus Protest gegen meine Anwesenheit zunächst bei Wes in einem anderen Gang einquartiert, aber bereits nach zwei Nächten war er zurückgekehrt. Auch die übrigen Höhlen hatten eine Zeit lang leer gestanden. Jeb erklärte mir, dass die anderen Angst vor mir hatten, was mich zum Lachen brachte.
Neunundzwanzig Klapperschlangen hatten Angst vor einer einsamen Feldmaus?
Inzwischen war Paige zurückgekehrt, die die Höhle hinter meiner mit ihrem Freund Andy teilte - dessen Abwesenheit sie betrauerte. Lily wohnte mit Heidi in der ersten Höhle mit den geblümten Laken, Heath in der zweiten mit den zusammengeklebten Pappstücken und Trudy und Geoffrey in der dritten mit einem gestreiften Quilt. Reid und Violetta lebten in einer Höhle weiter hinten im Gang und schützten ihre Privatsphäre mit einem fleckigen, abgenutzten Orientteppich.
Die vierte Höhle auf diesem Flur gehörte Doc und Sharon und die fünfte Maggie, aber keiner von den dreien war zurückgekehrt.
Doc und Sharon waren ein Paar und in ihren seltenen humorvollen Momenten zog Maggie Sharon damit auf, dass erst die Welt untergehen musste, bevor sie den perfekten Mann gefunden hatte. Alle Mütter wollten schließlich einen Arzt zum Schwiegersohn. Sharon war nicht das Mädchen, das ich in Melanies Erinnerungen gesehen hatte. Waren es die Jahre des Alleinlebens mit der mürrischen Maggie, die sie in eine nur wenig farbigere Version ihrer Mutter verwandelt hatten? Obwohl ihre Beziehung mit Doc noch jünger war als meine Anwesenheit auf diesem Planeten, zeigten sie kein Anzeichen frischer Verliebtheit.
Wie lange die Beziehung bestand, wusste ich von Jamie - Sharon und Maggie vergaßen es selten, wenn ich mit ihnen in einem Raum war, und achteten sorgfältig darauf, was sie sagten. Sie leisteten immer noch den stärksten Widerstand; sie waren die Einzigen hier, deren Nichtbeachtung meiner Person sich immer noch aggressiv und feindselig anfühlte.
Ich hatte Jamie gefragt, wie Sharon und Maggie hierhergekommen waren. Hatten sie Jeb selbst gefunden, waren sie schneller gewesen als Jared und Jamie? Er schien zu verstehen, was ich wirklich wissen wollte: War Melanies letzter Versuch, sie zu finden, komplett sinnlos gewesen?
Jamie verneinte das. Als Jared ihm Melanies letzte Nachricht gezeigt hatte, ihm erklärt hatte, dass sie fort war - es dauerte eine Weile, bis er nach diesem Wort in der Lage war weiterzusprechen, und ich konnte in seinem Gesicht lesen, was dieser Moment für sie beide bedeutet hatte -, hatten sie sich selbst auf die Suche nach Sharon gemacht. Maggie hatte Jared mit einem antiken Schwert in Schach gehalten, während er versucht hatte, alles zu erklären; fast wäre es schiefgegangen. Als Maggie und Jared dann bei der Auflösung von Jebs Rätsel endlich zusammenarbeiteten, hatte es nicht mehr lange gedauert, es zu lösen. Sie hatten die Höhlen gefunden, noch bevor ich aus Chicago nach San Diego gezogen war. Es war nicht so schwierig, wie ich gedacht hatte, mit Jamie über Melanie zu reden. Sie nahm an diesen Gesprächen immer teil - linderte seinen Schmerz, linderte meine Verlegenheit -, obwohl sie selbst wenig sagte. Sie sprach jetzt nur noch selten mit mir, und wenn sie es tat, dann nur ganz leise; gelegentlich war ich mir nicht sicher ob ich sie wirklich gehört hatte oder nur meine eigene Vorstellung davon, was sie denken mochte. Aber um Jamies willen gab sie sich Mühe. Wenn ich sie hörte, dann immer, wenn ich mit ihm zusammen war. Wenn sie nicht sprach, spürten wir trotzdem beide ihre Anwesenheit.
»Warum ist Melanie jetzt so still?«, fragte mich Jamie einmal spätabends. Ausnahmsweise quetschte er mich nicht über Spinnen und Feuerschmecker aus. Wir waren beide müde - es war ein langer Tag gewesen, an dem wir Möhren aus der Erde gezogen hatten.
Mein Rücken war völlig verspannt.
»Das Reden ist anstrengend für sie - es kostet sie viel mehr Kraft als dich und mich. Es gibt nichts, was sie unbedingt sagen möchte.«
»Was macht sie denn die ganze Zeit?«
»Zuhören, nehme ich an. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau.«
»Kannst du sie jetzt hören?«
»Nein.«
Ich gähnte und er schwieg. Ich dachte, er würde schlafen, und begann ebenfalls einzunicken.
»Glaubst du, sie geht irgendwann weg? Ganz?«, flüsterte Jamie plötzlich. Beim letzten Wort versagte seine Stimme.
Ich war keine Lügnerin, und selbst wenn, glaube ich nicht, dass ich Jamie hätte belügen können. Ich versuchte nicht daran zu denken, welchen Einfluss meine Gefühle für ihn darauf hatten. Denn was hatte es zu bedeuten, wenn sich die größte Liebe, die ich in meinen neun Leben je empfunden hatte, das erste Mal, dass ich so etwas wie Familiensinn oder Mutterinstinkt verspürte, auf eine andere Lebensform bezog? Ich schob den Gedanken beiseite.
»Ich weiß es nicht«, erklärte ich. Und weil es die Wahrheit war, fügte ich hinzu: »Ich hoffe nicht.«
»Magst du sie so sehr wie mich? Hast du sie so sehr gehasst wie sie dich?«
»Ich mag sie auf andere Art als dich. Und ich habe sie nie wirklich gehasst, noch nicht einmal ganz am Anfang. Ich hatte große Angst vor ihr und ich war wütend, dass ich ihretwegen nicht so sein konnte wie alle anderen. Aber Stärke habe ich schon immer bewundert und Melanie ist die stärkste Person, die mir je begegnet ist.«
Jamie lachte. »Du hattest Angst vor ihr?«
»Glaubst du nicht, dass deine Schwester einem Angst einjagen kann? Weißt du noch, wie du dich mal zu weit in den Canyon vorgewagt hast und sie laut Jared >absolut ausgerastet< ist, als du zu spät nach Hause gekommen bist?«
Bei der Erinnerung daran musste er kichern. Ich war froh, ihn von seinen schmerzlichen Fragen abgelenkt zu haben.
Ich wollte mich um jeden Preis mit allen meinen neuen Gefährten gut stellen und den Frieden wahren. Und ich hatte gedacht, ich wäre bereit, alles dafür zu tun, egal wie anstrengend es war oder wie sehr es stank, aber es stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte.
»Ich habe da über was nachgedacht«, sagte Jeb eines Tages zu mir, etwa zwei Wochen nachdem sich die Lage »beruhigt« hatte. Ich begann diese Worte aus Jebs Mund zu verabscheuen.
»Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir gesagt habe, du könntest hier vielleicht ein bisschen unterrichten?«
Meine Antwort war schroff. »Ja.« »Und, wie sieht's aus?«
Ich musste nicht darüber nachdenken. »Nein.« Meine Weigerung verursachte mir unerwartete Schuldgefühle. Ich hatte noch nie eine Berufung zurückgewiesen. Es kam mir egoistisch vor. Aber das hier war schließlich ganz offensichtlich ein Sonderfall. Die Seelen hätten mich nie gebeten, etwas so Selbstmörderisches zu tun.
Er runzelte die Stirn und zog seine raupenförmigen Augenbrauen zusammen. »Warum nicht?«
»Wie würde Sharon das wohl finden?«, fragte ich ihn mit ruhiger Stimme. Es war nur ein Argument von vielen, aber vielleicht das zugkräftigste.
Er nickte, immer noch mit gerunzelter Stirn, und stimmte mir in diesem Punkt zu. »Es geht ums Allgemeinwohl«, grummelte er.
Ich schnaubte. »Das Allgemeinwohl? Wäre es dafür nicht besser mich zu erschießen?«
»Wanda, das ist kurzsichtig«, argumentierte er, als sei meine Antwort ein ernsthafter Überzeugungsversuch gewesen. »Uns bietet sich hier eine absolut ungewöhnliche Gelegenheit, etwas zu lernen. Es wäre Verschwendung, sie nicht zu nutzen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand etwas von mir lernen will. Es macht mir nichts aus, mich mit dir oder Jamie zu unterhalten ...«
»Es spielt keine Rolle, was sie wollen«, beharrte Jeb. »Es ist gut für sie. Das ist wie Schokolade gegen Brokkoli. Es kann nicht schaden, wenn sie mehr über das Universum erfahren - ganz zu schweigen von den neuen Bewohnern unseres Planeten.«