Mein Name war jetzt Wanderer, aber zu ihren Erinnerungen passte er genauso gut wie zu meinen eigenen. Außer dass ich freiwillig auf Wanderschaft war. All ihren aufblitzenden Erinnerungssplittern haftete dagegen immer eine Spur von Angst an - der Angst einer Gejagten. Das war keine Wanderung, sondern eine Flucht.
Ich versuchte, kein Mitleid zu empfinden. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, die Erinnerung zu steuern. Ich musste nicht sehen, wo sie gewesen war, sondern nur, wo sie hinwollte. Ich durchsuchte die Bilder, die mit dem Wort Chicago verbunden waren, aber keins von ihnen schien mehr zu sein als ein zufälliger Schnappschuss. Ich vergrößerte mein Netz. Was befand sich außerhalb von Chicago? Kälte, dachte ich. Es war kalt und das war ein Grund zur Sorge.
Wo? Ich drängte vorwärts und die Mauer war wieder da.
Ich atmete heftig aus. »Außerhalb der Stadt - in der Wildnis ... einem Nationalpark, weit weg von allen Ortschaften. Kein Ort, wo sie schon mal gewesen ist, aber sie weiß, wie sie dorthin kommt.«
»Wann?«, fragte die Sucherin.
»Bald.« Die Antwort kam automatisch. »Wie lange war ich hier?«
»Wir haben den Wirt neun Tage heilen lassen, um absolut sicher zu sein, dass er vollkommen wiederhergestellt sein würde«, erklärte mir der Heiler. »Die Implantation war heute, am zehnten Tag.«
Zehn Tage. Eine heftige Woge der Erleichterung durchströmte meinen Körper.
»Zu spät«, sagte ich. »Für den Treffpunkt ... oder auch nur die Nachricht.« Ich konnte die Reaktion des Wirts darauf spüren – viel zu stark spüren. Der Wirt war beinahe ... schadenfroh. Ich sprach die Worte, die er dachte, bewusst aus, um dadurch vielleicht mehr zu erfahren. »Er wird nicht da sein.«
»Er?« Die Sucherin sprang sofort darauf an. »Wer?«
Die schwarze Mauer krachte wieder herunter, heftiger als je zuvor. Aber sie kam einen winzigen Sekundenbruchteil zu spät.
Das Gesicht füllte erneut meine Gedanken aus. Das schöne Ge- sicht mit der goldbraunen Haut und den hell gesprenkelten Augen. Das Gesicht, das ein eigenartiges, tiefes Glück in mir hervorrief, während ich es so deutlich vor meinem inneren Auge sah.
»Jared«, antwortete ich. Und so schnell, als stammte er von mir, kam gleich darauf der Gedanke, der nicht meiner war, über meine Lippen. »Jared ist in Sicherheit.«
Geträumt
Es ist zu dunkel, um so heiß zu sein, oder vielleicht auch zu heiß, um so dunkel zu sein. Eins von beidem ist irgendwie fehl am Platz. Ich kauere in der Dunkelheit, dürftig getarnt hinter einem kümmerlichen Kreosotbusch, und schwitze alles an Flüssigkeit aus, was meinem Körper noch geblieben ist. Es ist eine Viertelstunde her, dass das Auto aus der Garage gefahren ist. Es sind keine Lichter angegangen. Die Terrassentür ist einen Spaltbreit geöffnet, damit der Verdunstungs- kühler seine Arbeit tun kann. Ich kann mir vorstellen, wie sich die feuchte, kühle Luft anfühlt, die durch das Fliegengitter geblasen wird. Ich wünschte, sie wäre bis hierher zu spüren. Mein Magen knurrt und ich spanne meine Bauchmuskeln an, um das Geräusch zu ersticken. Es ist so still hier, dass das Grummeln weithin zu hören ist.
Ich habe solchen Hunger.
Aber da ist ein anderes Bedürfnis, das noch stärker ist - noch ein hungriger Magen, weit weg und sicher versteckt in der Dunkelheit. Allein in der Höhle aus rauem Fels, die vorübergehend unser Zuhause ist. Eine beengte Zuflucht, voll von spitzem Vulkangestein. Was wird er tun, wenn ich nicht zurückkomme? Die ganze Last der Mutterschaft und nichts an entsprechendem Wissen oder der dazugehörigen Erfahrung. Ich bin so ungeheuer hilflos. Jamie hat Hunger.
Es sind keine weiteren Häuser in der Nähe. Ich bin auf meinem Beobachtungsposten, seit die Sonne noch weiß und heiß am Himmel stand, und ich glaube, es gibt auch keinen Hund.
Ich rappele mich aus der Hocke hoch, wobei meine Waden heftig protestieren, bleibe aber gebeugt hinter dem Gestrüpp stehen. Der Weg die Böschung hinauf führt über weichen Sand, ein blasser Pfad im Licht der Sterne. Auf der Straße sind keine Autos zu hören. Ich weiß, was passieren wird, wenn sie zurückkommen, diese Monster, die aussehen wie ein nettes Paar Anfang fünfzig. Sie werden genau wissen, was ich bin, und die Suche wird sofort losgehen. Dann muss ich weit weg sein. Ich hoffe wirklich, dass sie den ganzen Abend in der Stadt verbringen. Ich glaube, es ist Freitag. Sie haben unsere Gewohnheiten so komplett übernommen, dass es schwierig ist, einen Unterschied festzustellen. Weshalb sie ja überhaupt nur gewinnen konnten.
Der Zaun um das Grundstück geht mir nur bis zur Hüfte. Ich kann ohne Probleme hinüberklettern, geräuschlos. Die Einfahrt ist allerdings aus Kies und ich muss vorsichtig gehen, damit er nicht knirscht. Schließlich erreiche ich die Terrasse.
Die Fensterläden sind geöffnet. Das Sternenlicht ist hell genug, um zu erkennen, dass sich in den Zimmern nichts rührt. Das Paar hat es offenbar gern spartanisch und ich bin ihnen dankbar dafür. So ist es schwieriger für jemanden, sich zu verstecken. Ich öffne zunächst das Fliegengitter und dann die Glastür. Beide lassen sich leise aufschieben. Vorsichtig setze ich auf den Fliesen einen Fuß vor den anderen, aber nur aus Gewohnheit. Ich muss nicht fürchten, dass hier jemand auf mich wartet. Die kühle Luft fühlt sich himmlisch an.
Die Küche liegt links von mir. Ich kann die Arbeitsplatte aus Granit schimmern sehen.
Ich streife mir die Segeltuchtasche von der Schulter und wende mich als Erstes dem Kühlschrank zu. Als beim Öffnen der Tür das Licht angeht, erschrecke ich kurz, aber gleich darauf finde ich den Schalter und halte ihn mit meinem Zeh gedrückt. Ich kann nichts sehen, aber ich habe keine Zeit, zu warten, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ich taste mich voran. Milch, Käsescheiben, Essensreste in einer Plastikschüssel. Ich hoffe, es ist das Gericht mit Huhn und Reis, das ich ihn zum Abendessen habe kochen sehen. Das essen wir heute Nacht. Saft, eine Tüte mit Äpfeln, Babymöhren. Das ist auch morgen noch gut.
Ich laufe in die Speisekammer. Ich brauche Sachen, die länger halten. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, während ich so viel zusammenraffe, wie ich tragen kann. Mmmh, Chocolate Chip Cookies. Am liebsten würde ich die Packung sofort aufreißen, aber ich beiße die Zähne zusammen und ignoriere den Krampf in meinem leeren Magen.
Die Tasche wird zu schnell schwer. Damit kommen wir höchstens eine Woche aus, auch wenn wir es uns gut einteilen. Und mir ist nicht nach Einteilen zumute, mir ist nach Verschlingen. Ich stopfe Müsliriegel in meine Hosentaschen.
Eine Sache noch. Schnell gehe ich zur Spüle und fülle meine Wasserflasche auf. Dann halte ich den Kopf unter den Strahl und trinke direkt aus dem Hahn. Das Wasser macht komische Geräusche, als es in meinem hohlen Magen auftrifft.
Panik steigt in mir auf, jetzt, wo ich meine Aufgabe erfüllt habe.
Ich will hier raus. Die Zivilisation ist tödlich.
Auf dem Weg nach draußen sehe ich auf den Boden, um mit meiner schweren Tasche nicht zu stolpern.
Deshalb bemerke ich die dunkle Silhouette auf der Terrasse auch erst, als ich schon die Hand am Glas habe.
Ich höre seinen gemurmelten Fluch genau im selben Moment, als mir ein ängstliches Quieken entschlüpft. Ich fahre herum, um zur Vordertür zu rennen, und hoffe, die Riegel sind nicht vorgeschoben oder zumindest nicht allzu schwer zu öffnen.
Ich komme keine zwei Schritte weit, bevor raue, grobe Hände mich an den Schultern packen und an seinen Körper pressen. Zu groß, zu stark für eine Frau. Die tiefe Stimme gibt mir Recht. »Ein Mucks und du bist tot«, droht er schroff. Voller Entsetzen spüre ich, wie sich eine schmale, scharfe Klinge in die Haut unter meinem Kinn drückt.