Du rufst niemanden an keinen Deiner Freunde weder Deinen Vater in Amherst noch Eric oder die Haushälterin Iris auf Long Island mit der Du über alles reden konntest Du bleibst einfach allein (fassungslos) und lässt Dich durch die Stadt treiben du siehst der Zeit zu die in ihr verstreicht bis es Nacht wird und früher Morgen es werden Mädchen in Parkanlagen ermordet unter Brücken in schäbigen Hotels oder sie werden angesprochen und in eigenartige vielleicht schreckliche vielleicht nur abstoßende und gewöhnliche gläserne durchsichtige nebulöse Angelegenheiten verwickelt es
kann sein
dass Du einen ganzen warmen Sommerabend lang auf einer Bank am East River sitzt (ein fragiles in sich versunkenes in ein Notizbuch schreibendes Mädchen) und dir nicht das Geringste geschieht
Dein erster Reflex auf der Little Brazil Street als Dir Deine Einsamkeit plötzlich bewusst wird ist der Griff zum Telefon und Du wählst hintereinander alle Nummern von Studenten die hier leben und irgendwie (auf einer Party einer Uni-Veranstaltung etc) in Deinem Adressverzeichnis gelandet sind
es meldet sich ein Junge der an der Columbia studiert und ein Studentenwohnheimzimmer hat er ist begeistert über Deinen Anruf er erinnert sich genau an ein Gespräch mit Dir das Dir ebenso lückenhaft und verschwommen im Gedächtnis ist wie der Junge selbst erst als Du ihm gegenüberstehst fällt er Dir wieder ein er ist ein Charmeur ein Tölpel ein eingebildeter Poet ein tumber Sportler ein Business-Streber ein
sehr jovial und vernünftig tuender eher klein gewachsener aber sportlicher Typ mit hektischen roten Wangen und streichholzkurzen eingegelten Haaren stolz auf seine blendend weißen Zähne und den Pokal der letzten Triathlon- oder Florettfecht- oder Judo-Uni-Meisterschaft (Du siehst nicht so genau hin) jetzt ist er glücklich und verlegen zugleich denn er muss heute Abend unbedingt zu der Geburtstagsfeier seines besten Freundes dessen Eltern wirklich Kohle haben und ein überwältigendes Dachgeschoss auf der Upper-West-Side Du könntest doch einfach mitkommen (was Dir sehr recht ist) bei der Rückkehr oder auf der Party wird sich garantiert ein Zimmer im Wohnheim oder bei einem Bekannten finden lassen
Du hältst bis drei oder vier Uhr auf der Party aus Du hast nichts bei diesem Jungen der Dich mitbrachte hinterlassen und kannst ihn einfach mit Hilfe Deines Durchhaltewillens abschütteln oder loswerden Du könntest dann ein Mädchen eine junge Frau in Deinem Alter ansprechen und mit ihr für eine Mütze Schlaf noch nachhause gehen (wäre das nicht die einfachste Lösung) Du könntest aber auch weiter durchhalten bis zum Sonnenaufgang und allein durch die Straßen gehen in irgendeinem Deli ein Frühstück nehmen oder eben
doch den Jungen begleiten der natürlich nur sein eigenes Zimmer zu bieten hat in diesem Alter schläft man durchaus einmal nebeneinander auf geschwisterliche Weise in einem Bett Du verzerrst so leicht das Bild einer Jugend die ebenso gierig und zärtlich und elend und großmütig sein wird (gewesen sein muss) wie Deine eigene und selbst wenn es geschähe dass Du trotz Deiner romantischen Verliebtheit in Eric oder gerade deswegen oder aus keinem anderen Grund als dem der Gelegenheit und des gleichsam automatischen Einrastens eines robusten unverwüstlichen biologischen Mechanismus mit ihm schläfst wäre das
nur ein Moment des Lebens der Dir allein gehört was
auch immer geschieht an diesem
gläsernen Ort an dem sich Zukunft und Vergangenheit vernichtend und zeugend berühren
es wird nie kompakt und deutlich werden es ist nichts als das Geschwirr durchsichtiger Phantome in Deinem Kopf es ist ein gläserner Knoten in der gläsernen Stadt der zerreißt
was bleibt sind die harten endgültigen Farben in Stein Glas Asphalt sind der Schweiß und Duft Deiner Jugend in der unerbittlichen Wirklichkeit des letzten Abends die wenigen
Augenblicke vor dem Durchsichtig-Werden oder der hypothetischen Verflüssigung der Dinge im Moment in dem Du auf der Sixth Avenue reflexhaft und fast panisch Dein Mobiltelefon hervorziehst und keine Taste darauf drückst sondern im Menschenstrom stehenbleibst als hätte Dich eine Zauberhand (die Nebelhand eines Dschinns) auf dem Kapitell einer einsam stehenden Säule abgesetzt ein unsichtbarer rauschender Abgrund umgibt Dich und Du spürst die Mitleidlosigkeit und das Grandiose der Stadt im selben Atemzug ein Spiegel aller möglichen Zustände vor Dir Du könntest jederzeit jemanden erreichen den Du kennst Deine Mutter Deinen Vater Deinen neuen Freund all die Freunde und Kommilitonen in Boston aber
Du schweigst Du drückst keine Taste und
so
verwandelst Du die Stadt in eine Stadt ohne Namen ohne Deinen eigenen Namen also unvermeidlicherweise auch
mehr kann man
über Dich nicht sagen
weiter nicht denken als bis zu diesen Augenblicken oder
Du nimmst Dir einfach ein Hotelzimmer auch wenn Du das bislang nur selten gemacht hast es erinnerte Dich an die Europareise mit Deiner Cousine Lotta vielleicht aber auch an Paris an die letzte gemeinsame Reise mit Deinen Eltern weil Du damals (mit dreizehn) zum ersten Mal ein eigenes Hotelzimmer erhieltest sogar in einem anderen Stockwerk als dieses sich mühsam vor Dir beherrschende Paar dessen aktivistische Verbitterung (der Louvre der Montmartre die Oper die berühmten Cafés die Buchhandlung Shakespeare & Co) dich quält und das streitend
Deinen Namen auslöscht
einmal erwachtest Du lange vor ihnen und gingst einfach auf die Straße hinaus eine kopfsteingepflasterte filmkulissenhafte Straße im Quartier Latin niemand beachtete Dich niemand hinderte Dich keiner fragte etwas die Stadt schien so ungeheuerlich gleichgültig und befreiend die Furcht und die Erregung hielten sich die Waage genau wie jetzt auf der Sixth Avenue
nachdem Du
fünf oder zehn Minuten gegangen warst
vorbei an Buchläden Bistros Geschäften mit goldenen Bezeichnungen auf schwarzem oder rotem Grund
fingst Du wieder an (nach Jahren) mit der arabischen Schwester zu sprechen die Du Dir einmal erfunden hattest und Du sahst sie ja auch hier in Paris an einem benachbarten Cafétisch im Freien es war eine orientalische Familie ein Vater und seine zwei Töchter vielmehr der Mann hatte einen schwarzen Schnurrbart eine hohe Stirn und gelichtetes Haar er wirkte sehr gütig aber auch mitgenommen erregt diskutierte er mit der älteren Tochter einer elegant und westlich gekleideten fast mannequinhaften jungen Frau die eine Zigarette zwischen den Fingern hielt und ihm heftig widersprach während die Jüngere
ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren
betroffen und dann wieder abwesend aussah sie war etwas rundlich und untersetzt sehr zurückhaltend und auf eine unauffällige Art hübsch (so wie Du selbst vielleicht) aber auch irgendwie selbstbewusst Du verspürtest plötzlich eine soghafte Neugierde mehr über sie zu wissen und einmal trafen sich Eure Blicke
Ihr erlittet einen seltsamen kleinen Schock der Euch gleichzeitig wortlos die Lippen öffnete
was
hättest Du sagen wollen oder sollen wie
begrüßt man die scheinbare Widerspiegelung eines lange gehegten Tagtraums was stellte sie wohl dar in ihrem vollkommen undurchdringlichen Pariser Leben
das Hotelzimmer
in dem Du erwachst passt nicht zum Quartier Latin es ist das zweite Mal dass Du an diesem Morgen zu Dir kommst und mit dem Anblick einer maurischen Zierleiste an der Wand in Deckennähe fällt Dir ein dass Dich beim ersten Mal tatsächlich der Gebetsruf eines Muezzin aus dem Schlaf schreckte
Du bist
im Land (in einem der möglichen Länder) der arabischen Schwester kein Zweifel öffne die Vorhänge und der Blick stürzt ins Licht heller Beton vertrocknete Palmwedel staubige Autos arabische Neonschriften noch beleuchtet mit einem schwachen Glimmen wie unter Asche nachglühendes Feuer