die grundlose Bläue über dem Strand
als Ort der Auseinandersetzung von Atmosphäre Festland und Ozean höre lies Geophysik Geochemie ich muss Differentialgleichungen II belegen und Nichtlineare Dynamik I: Chaos und mich anmelden für die Exkursion im Spätjahr
das Physikbuch sinkt wieder auf den Tisch und mit der Erleichterung kommen sofort die Skrupel auf ich muss
mich lösen das ist nur ein Urlaub und eine Liebe und eine
Frage
wie es begonnen hat mit National-Geographic-Magazinen mit zunehmend schwerleibigeren Büchern (Schnitte durch das Tortenprofil der Erdkruste Reliefdarstellungen des Meeresbodens von Isobaren marmorierte Luft) die lange auf einer einzigen mit Formeln und Diagrammen gespickten Seite liegen bleiben und mich
beruhigen
es ist mehr wie eine Meditation über einen kurzen Text es sind nicht diese Bücherstapel auf Bücherstapel wie in Martins Arbeitszimmer oder die Phalanx von schnell gezogenen benutzten wieder in Reih und Glied gestellten Aktenordnern Amandas es flößte ihnen Respekt ein wenn ich mit der Erde still an einem Tisch saß oder im Garten aber
nicht mehr mit
ihnen gemeinsam
in Amherst war es mein Vater allein der sich anerkennend wunderte wenn er von der Arbeit kam und mich nicht Musik hören oder Romane lesen oder in meinen Kladden Gedichte schreiben sah eben das was man von mir erwartete als Literaturprofessoren-Tochter aber
Schahrasads Vater
war der Wesir eine Art Politiker mithin eher jemand wie Seymour (der Berater) der sich nur freut wenn er mich mit der Geologie ertappt und wissenschaftliche Gespräche mit mir führen will so dass ich mich (ungewollt mittlerweile) in die arabische Prinzessin verwandle zu Boden blicke in mein Zimmer gehe den Fernseher anschalte und Gedichte herauskrame den Fernseher ausschalte das weiße Land Papier in das ich fliehe
(in dem ich
von oben her
erscheine
in seltsam gewundenen kurzen Tintenflüssen) öfter schreibe ich auch am PC die weiße Fläche der gestanzte Druck das Schnurren der Festplatte während ich Worte suche ein Schutzpolster mit dem du die Leere betrittst ich bin also
eine Dichterin am Meer (ach was: die störrische Prinzessin die Verse sucht)
oder die scheue Tochter
die durchaus einen keuchenden Jungen in ihrer Hand zucken lassen kann
von der Jones Library kommend in der ich so viele Kindernachmittage verbracht habe mit einem wissenschaftlichen Folianten als Brustwehr ging ich nach meiner Rückkehr zu Martin zwei Jahre lang so siegesgewiss durch Amherst als sei es schon eine Art
Paradies
der Ort eines ständigen verheißungsvollen Aufbruchs nämlich an dem man
immer bleiben könnte immer steckenbleiben immer mit einem Lehrbuch im Arm durch die Amity Street zur Ecke Main Street — North Pleasant Street schlendern möchte durch die vor den Copyshops Pizzerien Buchläden beisammenstehenden Jungs von der UMass vom Hampshire- oder Amherst-College hindurch sie zerteilen wie ein Seepferdchen eine nervöse Koralle (ich fasse dich nicht noch mal an Robert vergiss es)
ein Jahr mit festem Freund
das letzte (mein achtzehntes) ohne David war noch besser weil ich blieb um zu gehen und mich spannen konnte wie eine Feder
oder Nonne (Jeanne d’Arc) dreizehn Monate lange küsste ich niemanden
jedenfalls bin ich im Bewusstsein des baldigen Aufbruchs viel energischer und leichter geworden (wie Martin als er wieder zu joggen begann) heller im Inneren wenn es so etwas gibt aber man sieht doch die Ausstrahlung auch bei anderen ich war frei weil ich demnächst zum Studium nach Boston ziehen würde ich wollte keinen Freund mehr der hier irgendwo mit einem Zimmergenossen in einem Wohnheim hauste (und dann reuelos und zum Ohrfeigen kalt mit einem größeren Stipendium nach Texas in die Nähe seiner Eltern zog) ich wollte nicht mehr
die Professorentochter sein auf die man in den umliegenden Colleges schon wartete all die Lehrer die mich auf den Cocktailpartys auf den Schoß gezogen hatten und Deutsch sprechen ließen wie eine Puppe mit eingebautem Sprach-Wunderwerk
auch an Emily wollte ich nicht mehr denken ich war in meinem letzten Amherst-Jahr nicht mehr im Homestead- oder Evergreens-Haus und nur noch ein einziges Mal an ihrem Grab die Idee die ich früher liebte
im Verborgenen zu arbeiten
1700 nie veröffentlichte Gedichte als Brief an die Welt nach deinem Tod zu schreiben und in einem Haus in West-Massachusetts zu leben als stünde es auf einem grasgrünen kleinen Meteor im
Weltall
der Zeit man spürt
ich spüre
nicht genug wenn ich mich nicht bewege nicht reise nicht gegen die Dinge stoße und so gesehen war es einmal (wird es einmal) von Vorteil für mich (gewesen sein) dass sie mir die Wurzeln herausgerissen haben als wir von Paris zurückkehrten begann ich zu bluten auf Long Island in New York City in den
Gärten meiner Mutter
gibt es keine Erde für mich aber es (das Blut) war ja auch ein Zeichen für das Älter-Werden das Frau-Werden ich fand das
ruhelose Gedicht
des Hafis
schwarzes Wasser ewig ziehende Kamele schrillende Morgenglocken Pilger ohne Ziel
den ich eigentlich nur las um meinen Vater zu beeindrucken und weil mir die arabische Schrift der zweisprachigen Ausgabe so geheimnisvoll erschien es waren zu viel Weinkelche zu viele Schenken zu viele Räusche darin
der Rausch der Verzweiflung
ist womöglich eine große Musik aber nicht für Siebzehnjährige die begreifen
dass es ihnen nicht schlechtgeht ich wollte nicht mehr in Amherst bleiben und Emily Dickinson werden mir war klar dass ich die arabische Prinzessin verlassen musste
den Karton mit meinen Gedichten beklebte ich mit zwei Postkarten passend orientalisch (eine Sängerin und ein Wein trinkender älterer Mann im Burnus) und ließ ihn in Amherst zurück
in diesem Zimmer hier auf Long Island
dem Rausch-Ort meiner Verzweiflungen in meinem dreizehnten und vierzehnten Jahr
bin ich ohnehin nur noch zu Gast gewesen der Rucksack ist nur halb so schwer wie damals für die Europa-Reise im Wohnzimmer mit der großen Fensterfront zum Meer und den Dünen hin saß ich manchmal und hörte Musik und einmal schreckte ich auf und spürte ein schier blendendes Glück weil ich eine halbe Stunde neben meiner Mutter Amanda gesessen hatte wie aus Versehen vollkommen ruhig und frei
Eric wird ganz sicher
pünktlich sein
Hedschra
Verlass dein Haus, zerreiß dein Buch. Und geh!
Zerstöre, was dich kennt und liebt. Und geh!
Dein Herz ist ausgebrochen. Verbrenne es und geh!
Dein Gott verlor den Namen. So töte ihn und geh!
Muna
An der weiß gekalkten narbigen Wand des alten Kinos verblasst seit Jahren
der PRÄSIDENT
dicht neben unserer Schule ist sein Schnurrbart zerfasert und das linke Auge scheint allmählich von einer Krankheit aufgezehrt zu werden
aber wenn SEIN Name fällt (wie ein Schwert)
klatschen wir
wir singen es jeden Morgen aufgereiht in unseren blauen Kleidern und weißen Blusen er ist unser Vater der Schrecken den wir anbeten müssen dessen Name man nur singt nicht spricht nicht in den Mund nimmt wenn Nachbarn wenn Freunde wenn Jasmin und ihr Mann zu Besuch sind sagen wir nichts über den
PRÄSIDENTEN
ich verliere die Schwester die Sprache
fehlt mir ich würde mich wahnsinnig
schweigen hätte ich nicht Huda und Eren hinter den ockerfarbenen Mauern der Schule deren Eingang so nah an jenem Wandbild (eines von Millionen) liegt jeden Abend wünscht ER uns im Fernsehen