aber was hat er erzählt fragt Luisa sanft
sie lässt ihren Reiseführer auf die Decke sinken auf den aufgeschlagenen Seiten erblickt man erneut die rissigen armlosen 7000-jährigen Statuen aus Ain Ghazal blaugrau jetzt wie eine Keramik im diffusen Licht der Nachttischlampe
vor zwei Wochen kam er aus Bagdad hier an er ist ein irakischer Arzt seine Familie überlebte drei Kriege doch vergangenen Monat kamen seine Frau und seine ältere Tochter bei einem Terroranschlag ums Leben die jüngere Tochter die den Reitelefanten so gern mochte überlebte den Anschlag wie durch ein Wunder sie sei Anfang zwanzig und er vermute sie schwanger von einem Studenten der von einer Miliz ermordet worden sei bald werde er sie darauf ansprechen aber sie hätten sich eigentlich schon wortlos verständigt auch dieses mutmaßlichen Kindes in ihrem Bauch wegen (vielleicht noch mehr als wegen der gegen ihn ausgesprochenen ernst zu nehmenden Todesdrohungen) habe er Bagdad verlassen obwohl dort noch ein Großteil seiner Familie lebe unter anderem sein einziger Sohn der im Untergrund verschwunden sei
hast Du ihm auch etwas von Dir erzählt?
es schien mir –
unangebracht willst Du sagen aber warum hat er Dir diesen Bericht erstattet was hat er sich erhofft
nichts wirklich nichts ich denke es ging ihm nur darum –
fortzufahren
ja es ging ihm darum etwas zu formulieren etwas festzuhalten und abzuschließen
ganz wie Dir oder nicht? als Du die Gedichte von Sabrina vervollständigt hast und als Du Deinen Schmerz niederschriebst anstatt das Buch über Goethes Frauen zu beenden Luisa nimmt die Brille vom Gesicht und klappt sacht die Bügel übereinander wie hießen der Mann und seine Tochter
Fatima und Machmud
glaube ich
tief in der Nacht
kehrt eine Erinnerung zurück
sie stammt aus einem glücklicheren Tag in einem anderen Land noch einmal bist Du völlig aufgehoben selbstverständlich heil normal Ihr seid nur zwei Touristen die ein Zufallsgott allein in den Löwenhof der Alhambra schickte leicht berührt Ihr Euch mit den Schultern als Ihr auf die von freundlich wirkenden Löwen getragene Brunnenschale in der Mitte zugeht
die in alle vier Himmelsrichtungen leitenden schmalen Kanäle die vom Zentrum ausstrahlen schimmern trocken
noch einen Augenblick lang
Stille
Luisas hohe Brust ihre wie unerschütterliche warme Gestalt an Deiner Seite
die Tränen der Nasriden fielen vor über 500 Jahren eine Reisegruppe strömt herein
schwarze Tropfen fallen
aus der Zukunft in den Marmor der Wasserläufe sehr rasch und mehr und mehr bis sich um das Löwenbecken ein Kranz glänzenden Öls gebildet hat und
entflammt
ich höre noch (im Feuer als könnte man langsam und ruhig in den Flammen umhergehen wie in einem hohen Maisfeld oder zwischen an Wäscheleinen aufgehängten grell orange und gelb lodernden Seidentüchern) wie Luisa sagt
immer das gleiche Motto
der Wappenspruch
finde sich hundertfach an den Wänden Decken Säulen zwischen Arabesken und Gitterwerk ich sehe ihre weiche Hand mit den schlanken Fingern deren Nägel kirschrot lackiert sind an diesem Tag leicht und vorsichtig berührt sie die kunstvoll in den hellen Stein gemeißelte Schrift und ihre Fingerspitze wandert von rechts nach links
Wa la ghalib illa-llah
Es gibt keinen Sieger außer Gott.
Danksagung und Anmerkungen
Der Autor dankt dem irakischen Kulturverein Al Rafedain e.V. in Berlin für die Gelegenheit, eingehende Gespräche über den Irak zu führen. Er ist Frau Prof. Dr. Angelika Neuwirth für die freundliche Einführung in die literarischen Weiten des Nah-Ost-Themas verbunden und Stefan Weidner für seine erhellenden Bücher und so manches ermutigende Gespräch. Ohne den großen irakischen Dichter Fadhil al-Azzawi und sein andauerndes Interesse an meiner Arbeit wäre dieses Buch nicht entstanden.
Die im Text kursivierten Verse und Gedichte sind (soweit nicht gesondert ausgewiesen) Zitate aus nachfolgenden Werken:
Emily Dickinson: The Selected Poems
Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan
Omar l-Khajjam: Rubaijat-l-Omar-l-Khajjam, Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers, übersetzt von Friedrich Rosen
Walt Whitman: Leaves of Grass
Das Gilgamesch-Epos, übersetzt von Stefan M. Maul
Die als Motto aufgenommenen Verse von Walt Whitman zitiere ich nach der Übersetzung der Grasblätter von Jürgen Brôcan, die Verse von Adonis nach der Ausgabe Adonis: Ein Grab für New York, übersetzt von Stefan Weidner.
Die englische Version des Gedichts aus dem West-östlichen Divan (»Ach, um deine feuchten Schwingen …«) gebe ich in der Übersetzung von Alfred Browning wieder.
Hafis’ Verse (»Mein Herzliebster ist ein Kind …«) sind von Friedrich Rückert übersetzt.
Die Verse von Abu Nuwas und al-Mutanabbi zitiere ich nach Internetquellen (Wikipedia) — weil es für diese großen arabischen Dichter im Deutschen noch nicht einmal brauchbare Teilübersetzungen gibt.
Ebenfalls kursiv wiedergegebene kurze Verse arabischer und persischer Mystiker wie Rumi, Junaid oder Halladsch zitiere ich nach Annemarie Schimmeclass="underline" Mystische Dimensionen des Islam.
Bei der Umschrift der arabischen Namen und Begriffe habe ich der wissenschaftlichen Transkription eine einfache, im Deutschen leicht zu lesenden Variante vorgezogen.
Über den Autor
Thomas Lehr
1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Er wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen Nabokovs Katze (Roman, 1999), Frühling (Novelle, 2001) und der Roman 42, der 2005 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1957 geboren in Speyer
1979–1983 Studium der Biochemie in Berlin
Anschließend Tätigkeit als Systemverwalter und Programmierer an der Bibliothek der FU Berlin
Seit 1999 freier Schriftsteller
Der Autor lebt in Berlin.
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag erschienen
2010 September. Fata Morgana. Roman (ET: 16. August 2010)
Bisherige Veröffentlichungen (Auswahl)
1993 Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade. Roman
1994 Die Erhörung. Roman
1999 Nabokovs Katze. Roman
2001 Frühling. Novelle
2005 42. Roman
2008 Tixi Tigerhai und das Geheimnis der Osterinsel. Roman für Kinder