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GUTE NACHT

als Drohung damit wir bloß nicht aufwachen in seinem Land sagt Tarik schau dir das Pferd an auf dem er sitzt sie haben es chloroformiert damit es ihn erträgt der PRÄSIDENT reitet winkend davon in die untergehende Sonne nach Westen also sagt Tarik denn heute Abend will er mit seiner Frau in London einkaufen gehen seit ich sechzehn bin redet er so mit mir und macht mir Angst damit und erfüllt mich mit Stolz zweimal im Jahr kommt Onkel Munir der die Elektrogeschäfte von Großvater weiterführt und befühlt jede Wand und jeden Schrank mit geheimnisvollen Geräten er sucht Ohren wir können das sagt Tarik eine Familie mit Spürsinn und so kann er weiter frei reden und mich stolz und traurig machen mich bestürzen und quälen mit seinen Witzen und seiner Verzweiflung bis Farida ihn beschimpft (wegen Sami sie spürt dass er mehr als ich die Stärke und die Gelassenheit seines Vaters braucht)

das verstaubte Mosaik im Innenhof der Schule zeigte die Themse und Big Ben

gegenüber hängt das glänzende doppelt so große Mosaik auf dem Saddam als Fedajin mit rot gemustertem Kopftuch und Prachtgewand Saladins Säbel schwingt gegen die angstverzerrten Gesichter von George Bush und Margaret Thatcher denn das hier ist das alte englische Mädchengymnasium auch wenn es in den vergangenen fünfzehn Jahren drei andere Namen erhielt und drei neue Direktoren und es nur noch zwei Stunden Englisch in der Woche gibt selbst für die oberen Klassen man soll das nur Nötigste

über den FEIND

verstehen

für das Mosaik zahlten die Eltern deren Kinder auf der Schule bleiben wollten freiwillig zwei Millionen Dinar

ich atme

leichter wenn ich Huda und Eren sehe die Bänke in unseren langsam dahinsiechenden Schulräumen sind so alt dass Huda den eingeritzten Namen ihrer Mutter finden konnte die Tafeln haben Sprünge seit vor zehn Jahren eine amerikanische Bombe neben dem Kino einschlug eine Bäckerei zerstörte acht Kunden tötete weil sie Brot gegen Amerika kauften

wenn Jasmin behauptet der Irak müsse sich wehren dann frage ich mich ob das heißt prahlerische Mosaike gegen Bomben an die Wand zu mörteln oder im Haus deiner Familie jederzeit von der Armee aufs Bett geworfen werden zu können ich werde mit Eren darüber sprechen als Einzigster nur sie kann schweigen wie ich ihr langer weißer Hals mit dem kleinen Muttermal am Schlüsselbeinansatz dreht sich im offenen Kragen ihrer Bluse verletzlich und frei Huda aber wird wohl sagen

wenn sie es wollte und wenn sie es will

und mich dabei mit ihren indischen Augen und millimeterweise immer weiter nach oben wandernden Brauen so lange anstarren bis mir die Röte ins Gesicht schießt und wir in Gelächter ausbrechen aber ich ertrüge es nicht in diesem Fall ertrage es nicht mehr weil ich den Major schon ertragen musste in meiner Rolle als

an den Boden genagelter Schatten

meiner Schwester

beruhige dich bei Herrn Barams Mathematiklektionen aus zwanzig Jahre alten fadenscheinigen Schulbüchern in der dritten Klasse kam er neu an die Schule und stellte sich mit einer lustigen Aufgabe vor: Wenn eine Hussein-Rakete ein voll besetztes Spionageflugzeug mit vier Doppelsitzen abschießt, wie viele Amerikaner kommen dann ums Leben?

stirb im Fach Nationale Bestimmung

an Langeweile alles das kennen wir viel besser aus dem Fernsehen das Tarik hasst und doch immer laufen lässt damit wir lernen durch die Bilder zu sehen durch den flimmernden Schneesturm der Halbwahrheiten und Lügen damit wir uns leise unterhalten können bei offenem Fenster schließlich bin ich ein Fernseh-Doktor sagt Tarik denn mit Radio- und später Fernsehgerät-Verkäufen bezahlte sein Vater sein Studium

wir sehen Bilder

ohne Scham ohne Hemmungen wie durch einen in der Vergangenheit wütenden und unermüdlich kreisenden Sturm in unsere Wohnzimmer geschleudert die blutbefleckten Leichen palästinensischer Familien die zerrissenen Helden der Golfkriege die Berge von Ermordeten in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila die Kinder unseres eigenen Landes verstümmelt missgestaltet mit riesigen Schädeln und zitternden Puppenarmen geschwollenen Bäuchen grotesk verdrehten Beinen offenen nicht heilen wollenden Wunden Kinder die das Uran in den Sprengköpfen der amerikanischen Raketen die neben ihren Häusern einschlugen als ihre Mütter sie noch im Leib trugen durchstrahlt und verkrüppelt hat der Hass der sie noch vor ihrer Geburt traf

Embargoland

geht die Luft aus das Leben weiterer Zehntausender Kinder erlosch und OIL FOR FOOD konnte sie nicht mehr lebendig machen und auch nicht der Hinweis darauf dass man sie nur halb getötet hat weil der gnadenlose Wahnsinn des PRÄSIDENTEN ihre andere Hälfte mordete

stimmt das denn alles nicht frage ich empört

wenn es kein Ringen um die Wahrheit gibt

gibt es keine Wahrheit sagt Tarik

ich wünsche mir ein Schiff

unser Schiff

Schwester wie die Arche Noah oder das große Segelschiff von Utnapischtim das der Sintflut entrann der Feuerwelle der Gewalt entrinnen mit allen verstümmelten unterernährten ausgemergelten todkranken Kindern die wir auf weißen sauberen kühlen Betten hinauffliegen in

das Land das es

noch nirgendwo gegeben hat oder etwa doch

es ist nicht so dass der Mann von der Baath-Partei der in der Aula der Schule hinter dem Fernsehapparat sitzt und versucht nicht müde zu werden während er in unsere Gesichter starrt durch unsere Schädel hindurchsehen kann wie mit

Uranaugen

meine Schwester Jasmin

versteht etwas vom radioaktiven Zerfall vom Zerfall überhaupt auf ein Segelschiff wäre mehr Verlass als auf die elektrischen Leitungen das plötzliche Erlöschen der Notbeleuchtung das Zusammenstürzen der Fernsehbilder die Kühlschränke stumm wie so oft

bei Stromausfall öffnen sich wieder die Vorhänge das Mittagslicht trifft das zerschabte Avocadogrün der Wände zwischen denen wir sitzen wie in einem Aquarium das keiner mehr reinigen will in unseren sauberen weißen Blusen und sorgsam ausgebesserten blauen Kleidern wir atmen auf denn vielleicht hätten wir noch einmal den sechsstündigen Spielfilm über SEINE Anfangsjahre sehen sollen Die langen Tage worin ER nicht mit der Wimper zuckt als man ihm ohne Betäubung die Kugel aus dem Bein entfernt die sich (laut Onkel Munir) nie darin befunden hat

kein Strom kein Wasser für lange Stunden oft in mehreren Stadtvierteln

die Englischstunde mit Frau Jadallah die seit zwei Jahren ein Kopftuch trägt und immer leiser spricht so als sei sie die ganze Zeit am Verschwinden ihr gesamtes Auftreten ist wie eine Entschuldigung für

sich

in der letzten Stunde versucht uns Onkel Machmud mit seiner eisern freundlichen Art seiner Aufmerksamkeit für jeden von uns seiner Beharrlichkeit und feinen Uhrmachergeduld die alten hocharabischen Gedichte so nah zu bringen als glitte ein unbezahlbar edler Seidenstoff durch unsere Hände oder als dürften wir in aller Öffentlichkeit wunderwirksame Drogen einnehmen in der Hitze unseres Klassenzimmers zerfließen die Gedanken die Konzentration Huda fächelt sich Luft mit einem Gedichtband zu heute Mittag kann ich mit ihr nachhause gehen und vielleicht auch ihre Mutter im Nationalmuseum besuchen schon

gehen wir Arm in Arm durch das Schultor am einäugigen PRÄSIDENTEN vorbei in den Nachmittagsbackofen der Stadt mit den gleichen weißen Spangen im Haar

in dem alten roten Doppeldeckerbus der vielleicht einmal durch London gefahren ist trägt mehr als die Hälfte der Frauen Abayas BMO — Black Moving Objects sagt Sami die großen internationalen Hotels (das Sheraton das Palestine Meridian) liegen rechts dann ruckeln die angrenzenden Luxusgeschäfte vorbei zerbeulte rot-weiße Taxis überholen einen nagelneuen aber wie für eine Filmkulisse irgendwie unglaubwürdig mit Staub überzogenen Mercedes wir schaukeln gegeneinander im Schweiß der Menge Hudas indische Augen verdrehen sich nach oben wenn uns die Blicke der Männer treffen oder sie absichtlich laut seufzen manchmal stößt sie vergnügt gegen mich um mich ihre runden Brüste und ihr Becken spüren zu lassen so wie sich die Jungen ihre Armmuskeln zeigen in unseren Trägerkleidern und durchgeschwitzten Blusen sind wir Laila und die Wölfe denke ich wer mit ihnen spielt braucht die eisernen Nerven die Intelligenz die Kühnheit die Arroganz