meiner Schwester
an der Ahrar-Brücke steigen wir aus rechts liegen die alten Moscheen und die assyrischen und chaldäischen Kirchen eingebettet in die großen Suks durch die wir manchmal bummeln heute Abend noch will Huda ein Armband für den Geburtstag ihrer Cousine kaufen aber wir gehen jetzt zur Karkh-Seite hinüber gönnen wir uns ein Scherbet sagt Huda was ich eigentlich nicht tun sollte hörte ich auf meinen Vater der mir jederzeit Vorträge über Milliarden und Abermilliarden von Mikroben in Wassereis hält aber ich habe schon viele Scherbets überlebt
der heiße Abgasatem der gegen unsere Körper bläst wird auf der Brücke beiseitegeschoben von einem frischen Wind über dem Tigris und mir wird plötzlich so leicht zumute als könnte ich fliegen wenn ich es nur wollte mein Flight Simulator ist mein Kopf wenn ich nur die Augen schließe für einige Sekunden das Brückengeländer an meiner Hüfte ist die Reling das Meer liegt unter mir ich denke dass mir das immer bleiben wird
die Träume die Bilder die Stille
geh schneller sie hupen doch schon wie verrückt die Böcke sagt Huda und wir beschleunigen unseren Schritt
Martin
Vor der Gerbermühle
im Sommer 2000
die bierfarbenen Tische und Holzbänke unter den alten Bäumen am Main es gibt die Absicht das nur klotzig und gesichtslos wiedererbaute Gebäude historisch genau oder genauer zu rekonstruieren (wird man das Mühlrad wieder anbringen Willemers Studienkabinett neu einrichten Mariannes Gitarre stimmen und mit rosa Bändern verziert an die Wand hängen) es gibt Äppelwoi paniertes Schnitzel Kartoffelsalat Rindsroulade mit Kohl es gibt einen
Grad von Realität gegen den der
Gedanke nichts hilft (den er aber auch nicht mehr zerstören kann) etwa die vollkommen geisterhafte Vorstellung dass wir nun im 3. Jahrtausend leben (der Okzident und die von seiner Zeitordnung bestimmte Welt) gegenüber der lachend und kopfschüttelnd die Speisekarte studierenden zweifachen Wirklichkeit von Sabrina und Luisa auf der Bank mir gegenüber unter einem blau-weißen Sonnenschirm das völlig Unvereinbare Unverwandte ihrer äußeren Gestalt so dass trotz des Altersunterschiedes der Vertrautheit ihrer Gesten und der Nähe ihrer Körper kaum jemand auf die Idee käme sie könnten Mutter und Tochter sein und wir drei eine Familie obwohl wir zumeist Englisch sprechen wenn nicht gerade Sabrina auf Deutsch einen ihr unbekannten Ausdruck (gri Soß) von der Karte abliest und mich dabei fragend ansieht
das Nicht-Zueinanderpassen freut mich es scheint mir die beste Chance für ein gutes gemeinsames Leben zu sein Luisa (das hochgesteckte blauschwarze Haar ihr großflächiges Gesicht die glühenden Goetheaugen (denke ich hier) der lange Hals über der schweren weißen Büste) könnte man für eine spanische Verwandte oder eine Lehrerin dieser jungen Amerikanerin halten die sich mit Hilfe einer sandfarbenen weiten Bluse einer hellbraunen Sommerhose dem immer wieder vor das Gesicht fallenden offenen Haar möglichst unauffällig zu machen versucht mit der Schamhaftigkeit oder natürlichen Abwehr junger Menschen die nicht ins Licht
Blitzlichtfeuer der Zerstörung jeder Individualität jedes menschlichen Überrests
gezerrt werden möchten
die schmale Nase die Form der Stirn ganz leicht erkennt uns jeder als Vater und Tochter
es wird nicht möglich sein
sie zu retten indem ich unsere Ähnlichkeit vergesse
Sabrina kann immer noch nicht glauben dass sie die Highschool wirklich hinter sich hat dass wir uns tatsächlich auf der versprochenen Europareise befinden dass sie als Nächstes nach Berlin fahren wird um dort ihre ältere Cousine zu treffen mit der sie weiter nach München Florenz und Rom reisen kann
sie macht sich zerbrechlicher als sie ist
dachte ich (in einem noch belanglosen noch völlig abstrakten Moment des Irrtums)
sie kramt in meinem Rucksack blättert in meinen Büchern Marianne interessiert sie als dichtende als seltsam verlorene und doch aufgefangene Frau (das der Mutter abgekaufte Schauspielerinnenkind) ich unterdrücke den Impuls ihr zu erzählen wie der (ächzend Billette dichtende den Salontänzern wie ein ordensbekränzter Truthahn voranstolzierende) 74-jährige Geheimrat dessen Scherenschnitt Marianne nachtrauert bis ans Ende ihres blutleeren wenn auch nicht unvergnügten Lebens sich acht Jahre nach der orientalischen Gerbermühlenzeit in Marienbad aufschwang zum einzigen Heiratsantrag seines Lebens adressiert an eine Liebe in gerade einmal Sabrinas Alter
Ulrike
verblasst und glüht weiter als
Elegie
als Luftgestalt eines Mädchens das sich in eine junge Frau verwandelt Sabrinas Hände mit den unlackierten Fingernägeln blättern in dem Gedichtband als Kind malte sie die Nägel rot und silbrig und blau an sie war verrückt nach Schminke und Glitzer in jedweder Form einmal malte sie sich selbst als Prinzessin mit drei auseinanderstehenden Goldzähnen im oberen Kiefer
sie hatte gerade einmal zwei kleine Zahnfüllungen sie trug nie eine Spange sie hat die Stelle gefunden sie liest leise und konzentriert so dass nur Luisa und ich es hören können (genau in der Mitte ihrer Daumennägel verläuft eine feine vertikale Linie eine Verfärbung die weder Amanda noch ich haben)
Zephyr, for thy humid wing,
Oh, how much I envy thee!
Thou to him canst tidings bring
How our parting saddens me!
und Deutsch sagt Luisa und Sabrina zitiert Mariannes Gedicht im Original den Blick zunächst auf die Buchseite gerichtet so als übersetze sie es gerade dann sieht sie wenigstens bis zur Tischplatte auf Bier- und Apfelweingläser der strohfarbene gekühlte Riesling in einem Glaskrug mit grünem Stiel dessen Wirkung in meiner Blutbahn schon dort und damals die Szene vor der Gerbermühle vom Ort und aus der Zeit zu lösen schien (sie hinüberrettete in die Bleikammern der Erinnerung) Sabrina spricht weiter mit halb gesenktem Kopf während Luisa mich ansieht vergnügt staunend großzügig oder vielleicht auch (ein wenig) verzeihend (ein wenig) überlegen es mag sein dass ich die Indizien einer Konkurrenz nicht wahrhaben will zwischen Tochter und Geliebter Sabrinas Deutsch ist fast ohne Akzent insbesondere wenn sie etwas rezitiert oder liest es ist
mein Deutsch eine ganz persönliche und doch zutiefst allgemeine Spiegelung in ihrem Gehirn die ersten fünf Jahre ihres Lebens sprach sie fast nur mit mir meine Muttersprache sie hat eine Vatersprache sie hat von mir fast jedes frühe Wort
Luftgebilde
Zeichen
das Herabfallen grüner Kastanienblätter
Wespen über einem vom Apfelsaft durchnässten Kassenzettel der sich vom Tisch löst und nun vorüberfliegt in Richtung Main ein sommerhimmelblauer Strom am anderen Ufer begrenzt von einer lang ausgezogenen Reihe hoher Pappeln hinter denen mächtige Speicherhallen emporwachsen deren betongraue Fassaden in der Helligkeit seltsam zurückhaltend wie schon halb aufgelöst wirken (als wären sie schon Erinnerung) an einer Wand erkenne ich plötzlich die zugleich enorm vergrößerte und wie eine Fotoprojektion bei Tageslicht verblasste Werbung für Aurora diese Sonne auf rotem Grund die ich als Kind auf den Mehltüten in der Küche meiner Mutter sah
Sabrina entdeckt als Erste die Ginkobäume auf der Wiese hinter der Mühle als wir am Ufer auf die Frankfurter City zuwandern und findet auch gleich darauf einen kleinen Sandsteinsockel ohne Denkmal auf dem in goldenen Buchstaben ICH steht sie