symbolische Wunden
dagegen für uns die Wunde der Ohnmacht des Schuldgefühls und des immer wieder verletzten Stolzes die Wunde der Unfähigkeit den Palästinensern zu helfen (bis auf den heutigen Tag) wie damals in jenem mit Soldaten überfüllten Zug in dem ich versehentlich einem alten Mann auf die Hand trat der im Gedränge einen Herzanfall erlitten hatte und niederstürzte und den ich nicht retten konnte schon gar nicht mit meinem verworrenen Wunsch auf einer der Nachschublinien nach Syrien mein Leben zu lassen oder einfach irgendwohin geschleudert zu werden obgleich ich doch Farida liebte die wütend zuhause auf mich wartete
gelernt habe ich damals vor allem die Konjugation der Ohnmacht also zu unterscheiden zwischen der Ohnmacht zu vernichten der Ohnmacht zu rächen und schließlich der Ohnmacht zu helfen die auch für den Friedlichsten noch übrigbleibt
still (aber endgültig) schloss ich daraus
dass man die Mäuler der MASSEN mit Brot füttern muss statt ihre symbolischen Wunden mit Salz
fanatisch begann ich zu glauben
dass man die tatsächlichen Wunden verbinden solle statt sie mit dem Blut der Gegner trostlos und infektiös zu tränken
verständnisvoll hörte und höre ich den Jammer über Jerusalem und selbstverständlich müssen sich unsere Nachfahren dereinst frei am Tempel und an der Moschee dort treffen können (oder keine Mühe und kein Leid hätte sich gelohnt) Juden Christen Muslime aber ich sage euch
dass nichts stimmt wenn sich nicht auch agnostische alte Mediziner wie ich einfinden dürfen mit ihrer ganz privaten Nicht-Meinung ihrem profunden Unglauben und dem unbedingten Verlangen nach Kulturen und Zivilisationen die ihren Namen wirklich verdienen
wie betäubt also fuhr ich nachhause in jenem Zug voll deprimierter Rückkehrer nach Bagdad die nicht hatten kämpfen dürfen und die Niederlage zu ahnen begannen bin ich aber endgültig Arzt geworden und ich habe kein einzelnes Schlüsselerlebnis dafür sondern der ganze quälende Zusammenhang der Rückfahrt muss für eine Art von Erklärung herhalten die Depression und der zu Boden fallende und sterbende alte Mann die Blicke aus den staubigen Zugfenstern auf die sich weiter und weiter drehende Welt und dann schließlich ein seltsames irgendwie absolutes aber eigentlich sinnloses Bild und vielleicht war es das vielleicht geriet ich allein deshalb in den unheilbar abgeklärten Zustand in dem ich mich heute noch befinde ich sah
fünf weiße Störche über dem tintenblauen Euphrat
eine Minute lang
bewegungslos in der Luft
wie eine perfekte andere Welt wie etwas
das hier war und doch nie berührt werden würde etwas das auf eine gewisse Weise endgültig war ein Bild von
Freiheit oder Liebe (oder vollkommener Harmonie? wie auf einer japanischen Tuschezeichnung vielleicht)
auf das die Müdigkeit folgte die Niedergeschlagenheit und die Beschämung vor Farida
wie soll ich also die Geschichte überschreiben sagen wir Die Störche des Hippokrates?
die während des Sechstagekriegs verkauften
Radios
schickten mich jedenfalls nach Paris
denn mein Vater hatte ein Jahr zuvor mit seinem letzten Kapital fünf Elektrogeschäfte gekauft
eine Nacht lang setzte ich mich vor eine stumme Reihe dieser elektrischen Wundertiere und starrte auf ihre polierten Holzgehäuse die Schleierwand vor dem Harem ihrer Lautsprecher die geriffelten Drehknöpfe an den Außenseiten die glasverkleideten Sendersuchleisten die elfenbeinfarbenen Klaviaturen zur Frequenzwahl ich senkte den Kopf und äugte durch die poröse Rückwand eines Geräts und schaltete es an als könnte über der glühenden Röhrenstadt in seinem Inneren etwas anderes aufsteigen als der Hass auf die Israelis und die vermeintlichen jüdischen Spione in der irakischen Regierung nämlich eine Antwort auf die Frage
ob ich auch allein nach Frankreich gehen sollte
denn wir hatten kaum unsere Koffer gepackt um als glücklich davongekommenes junges Paar ins Ausland zu fahren als Faridas Mutter schwer erkrankte
Anfang August gingen wir ein letztes Mal am Tigris spazieren die Radios wüteten noch immer
2 Millionen Israelis hatten 80 Millionen Araber besiegt (schrieb man im Westen als hätten wir mit Feldsteinen gekämpft und als wäre jeder Mann und jede Frau und jedes Kind dabei gewesen)
es waren die französischen Jagdbomber die deutschen Panzer die amerikanischen Kanonen hörten wir bei uns und wir hörten Doris Day singen wie in jenem Hitchcockfilm den wir Jahre später zusammen in Paris sehen würden Que Sera von einem der Fischrestaurants her wir setzten uns ans Ufer wir waren nicht fähig klar zu denken oder zu fühlen Que Sera war kismet ein beinahe muslimisches Lied es brach ab kaum dass wir uns gesetzt hatten
es ist keine Frage sagte Farida ich komme nach sobald es meiner Mutter bessergeht
ich würde nach Paris gehen mit Hilfe der Radios
ich ging und weil ich (der Jüngste) der Einzige war der studieren konnte noch dazu in Frankreich kam unter meinen Geschwistern jener durchaus nicht nur gut gemeinte Witz auf von meinem Freund Moschel zu reden dem ich das Auslandsstudium verdankte
in Paris träumte ich
neben Hussein in unserer Bude immer wieder vom israelischen Verteidigungsminister der eines meiner Augen verlangte als Provision bis Hussein mich heilte indem er Dutzende von Karikaturen zeichnete auf denen man mich und Mosche Dayan sah die letzte und aufwändigste auf einem großen Blatt auf dem ich den Kopf mit darübergeschlagenen Armen auf meinen Schreibtisch gelegt hatte umwimmelt von Dayans in der Größe von Mäusen Katzen Hunden allesamt mit Augenklappe einige flogen wie Fledermäuse um meinen Kopf oder saßen in kleinen Mirage- oder Mystère-Jagdbombern (ich kann solche Wunderwerke nicht voneinander unterscheiden) von denen einer meinen Papierkorb in Brand schoss ein anderer meinen Anatomie-Atlas
es war noch sieben Jahre später kein guter Witz
als Farida und ich 1974 zurückkehrten
waren wir schon einen Krieg weiter wir feierten die Geburt unseres ersten Kindes an seinem siebten Lebenstag ich hielt Jasmin in den Armen und sie schien mir weniger zu wiegen als eine Taube ich flüsterte ihr dreimal ihren Namen ins Ohr (ich glaube an den Namen des Menschen) wie ihr Faridas fromme Tante kurz nach der Geburt die Fatiha ins Ohr geraunt hatte das geschlachtete Lamm wurde im Innenhof des großen Hauses in Wasiriya gebraten das mein Vater nach dem Radio-Coup noch hatte erweitern können so dass zwei meiner Brüder mit ihren Familien darin Platz fanden uns dreien wäre das Haus meines Großvaters in Betawiyn geblieben aber ich hatte schon eine moderne Wohnung gemietet mein Vater war siebzig damals und noch ganz der große Scheich seiner Geschwister meiner Geschwister meiner Cousins die in seinen Elektroläden arbeiteten ich musste dagegen ankämpfen mich für Jasmins Geschlecht entschuldigen zu wollen aber er sagte doch kein Wort darüber dass die kleine Schiitin Farida ihm eine Enkeltochter serviert hatte nein vielleicht freute er sich sogar vor allem aber freute er sich dass ich tatsächlich zurückgekehrt war
als Arzt in den Irak
(das Land der unendlichen ärztlichen Arbeit)
die Wärme ist da sie umgibt mich meine Geschwister haben nicht geglaubt dass ich wiederkomme und jetzt ist ihre Freude ehrlich ich mag denken fürchten hoffen was ich will ich bin
zunächst einmal
zuhause ich spüre wieder die Hitze die vertrauten Stoffe rieche die Gewürze gehe unter den Dattelpalmen am Tigris streife die Lehmziegelmauern die Teppiche die Tücher wandere über die Brücken bummle mit Farida die Abu-Nuwas entlang und über die Suks ertaste die rissige jahrhundertealte Haut der Stadt als berührte ich einen mächtigen Elefanten mit der Ausdünstung von Kebab Kardamom Kohlenmonoxid Karbid sehe wie sich die modernen Wohnblocks die internationalen Geschäfte die neuen Hotels eingenistet haben und die Heimstatt der Weisheit die Wohnstätte der Vernunft die Mutter der Welt BAGDAD mit einem betonharten glasharten Versprechen auf ungeahnte Zukunft armiert während schon die Volkswagen Opel Renaults sogar Straßenkreuzer aus den USA durch ihre großen Arterien fahren