dem Ölmann
wie Sabrina und ich ihn immer nannten als bestünde er von Kopf bis Fuß nur aus einer viskösen schwarz glänzenden Masse oder spiegelnden Flüssigkeit vielmehr die durch ein Wunder (der Petrochemie) zusammenhielt zu menschenähnlicher Gestalt
in Boston und Cambridge hatte sich der frühe Septembertag im Jahr 2000 zu einem klassisch schönen Sommertag entwickelt (übertrieben dreidimensionale Marmorwölkchen wie fliegende Steine vor dem Hintergrund einer stahlblauen Himmelsfläche) in einem neuen Jahrtausend ihr Studium zu beginnen erschien Sabrina weniger bemerkenswert als mir (der ich oft daran gezweifelt hatte so lange zu leben)
die ersten Stunden
betäubten wir uns mit Organisation schleppten Kartons packten aus räumten ein und ich versuchte nicht zu eifrig zu wirken um nicht den Anschein zu erwecken Sabrina loswerden zu wollen auch wenn ich in dem Augenblick in dem ich das Studentenwohnheim am Charles River sah (eines jener nüchternen fünfstöckigen Gebäude welche die klassische Brownstone-Architektur nachahmen nur etwas kantiger und transparenter so dass nichts verloren und nichts gewonnen scheint) den nicht wieder zu schließenden Riss der Trennung spürte
der noch einmal zugewachsen war als sie mit sechzehn beschlossen hatte zu mir nach Amherst zu ziehen und dort (zuhause) die Highschool zu beenden plötzlich so konzentriert und engagiert dass ihre MIT-Bewerbung angenommen wurde
der Riss ist nichts weiter als
das notwendigerweise vollkommen eigenständige Leben des anderen des eigenen Kindes
deiner Tochter die auf einem Kiefernholzsofa an deiner Seite zwischen halb ausgepackten Umzugskartons die Listen des MIT Housing studiert What’s in the room: Extra-long bed — Mattress — Desk — Desk-Chair — Bureau — Phone — Ethernet-Access — Waste baskets … What to bring: Adress book — Alarm clock — Aspirin or other
Pain
reliever
Sabrina greift nach ihrem einen Popsong dudelnden mobile es ist ihre Mutter die noch einmal unseren Termin für den kommenden Mittag bestätigt dessen Sinn mir unklar ist dem ich aber auch nicht ausweichen möchte (eine der Mutproben ähnelnden Amanda-Inszenierungen von Patchwork-Familien-Harmonie) und als Sabrina auflegt versetzt mich das Nachklingen von Amandas Stimme in dieser Umgebung so lebhaft in die Zeit in der wir gemeinsam in einem Wohnheim-Zimmer hausten büffelten und uns liebten dass es mir so vorkommt als besuchte Sabrina mich und nicht ich sie in ihrer neuen Behausung und das Gefühl hält noch an
als wir aufstehen das Zimmer verlassen und die Gerätschaften der Gemeinschaftsküche besichtigen im Fahrstuhl erscheinen mir Studienanfänger wie ich sie seit so vielen Jahren in meinen Vorlesungen und Übungen sehe fast so mysteriös und interessant wie sie Sabrina wohl vorkommen (immerhin sind es künftige MIT-Leute und nicht Frischlinge unserer Wald- und Wiesenuniversitäten)
noch während wir in die Tiefgarage rumpeln
hält die illusionäre Zeitverschiebung an ich fühle mich wie ein älterer Kommilitone dieser Freshmen deren Eltern und Freunde ebenfalls Kartons CD-Player Kleiderbündel Baseballschläger und Fernsehgeräte in das Heim schleppen am Labours Day
gegen Abend kommt dann auch Sabrinas Zimmergenossin Julia an eine ironische Rothaarige mit trägem fülligen Körper und schnellem Mundwerk wir besuchen einen Irish Pub auf dem Campus und noch immer und obgleich oder weil die beiden jungen Frauen sich blendend verstehen und lebhaft miteinander reden kehre ich nicht so recht in mein Professorenalter zurück sondern schwimme in einer diffusen Zeitzone zwischen den Studenten mit ihren flackernden mobiles den Guinness-Reklamen den Schwarz-Weiß-Fotografien die das Leben der irischen Einwanderer in halb ironischer halb glorifizierender Weise in die vage Gegenwart projizieren
am nächsten Tag
frühstückte Sabrina schon allein mit Julia und ich erwachte in meiner Pension in der Harvard Street
plötzlich 52-jährig mit einer jähen Empörung als sei ich im Zeitraffer in ein unerträgliches Alter geworfen worden Hochzeit Promotion Alkoholsucht und Scheidung lagen schon hinter mir (Reihenfolge daher egal) man hatte mich mit dem eigenen Leben abgespeist oder gar betrogen
aber als ich gegen neun Sabrina treffe um zu sehen wie rasch sie und Julia sich in ihrem Doppelzimmer arrangiert haben kann ich mich wieder mit mir abfinden der mächtige alte Trost ein Kind zu haben befreit mich von mir und mit dem Blick auf die wackeligen Regale und kleinen Schreibtische überkommt mich auch die Erleichterung
das alles
nicht mehr nicht noch einmal
leben zu müssen
Sabrina würde vielleicht mit gespannterem Interesse und höherer Energie als es mir einmal möglich gewesen war (vor dreißig Jahren in Bremen) ihr Studium beginnen neben der fülligen witzigen fraulichen Julia wirkt sie entrückt wie eine herabgesegelte Fee die ihre Zauberkräfte mit MIT-Spezialwissen untermauern möchte es sind die Earth, Atmospheric and Planetary Sciences denen sie sich verschreiben will zu meiner Verwunderung als ein mit Literatur aufgewachsenes Kind das mit fünfeinhalb Jahren lesen konnte und noch heute Gedichte schreibt (die noch als junge Frau Gedichte schrieb) womöglich braucht die künftige Lyrik genauere Kenntnisse über die Tektonik der Erde die Physik der Ozeane die Bewegungen der Luft
womöglich braucht Sabrina auch das Profane Moderne entschieden Diesseitige des MIT mit seinen Glas- und Betonbauten seinen eingeengten Grünflächen und kalkulierten Passagen in kahlgeräumte Innenhöfe den modernisierten Backsteinbauten und rezivilisierten Exponaten der wüsten Architekturmoden der sechziger und siebziger Jahre zwischen denen manchmal noch die Erinnerung an die Barackenbauten der Vierziger aufschimmert als man hier die Funkcodes deutscher und japanischer Kriegsschiffe knackte es muss ein heilsamer Schock oder eine Art groß angelegter
Ernüchterung
sein was sie hier sucht
Kontakt mit der technologischen physikalischen subkutanen härteren Unterschicht der Realität
die sie nicht finden würde ginge sie immer nur wie jetzt neben mir
in traumhafter Unschärfe zwischen den gepflegten Vorgärten den roten und weißen blauen blassgrünen Holzhäusern frisch gestrichenen Veranden gestutzten Straßenbäumen ondulierten Büschen dezenten teuren Gemeinschaftswohnanlagen der Harvard Street zum Harvard Square der ihr immerhin gefällt von einem Caféhaustisch aus betrachtet
während sie mir nur einen Gefallen zu tun scheint als sie vorgibt auch den ehrwürdigen Campus sehen zu wollen (der reichsten Universität der Welt) und wir finden wie leicht Betrunkene oder Gleichgewichtsgestörte keinen rechten Halt auf den strahlenförmig angelegten Wegen des Innenhofs ich zeige ihr die Freshmen-Unterkünfte die den ihren am MIT ähneln aber hier wie Küken um die Glucke gelagert sind wir polieren die linke silbern glänzende Schuhspitze des bronzenen John Harvard (wie alle Glück wünschend das es nicht gäbe hätten es alle) wir sehen kurz in den fantastischen Lesesaal der Widener Library hinein und stehen vor der Gedenk-Nische den frischen Blumen dem Ölgemälde des ehemaligen Studenten dessen Mutter die Bibliothek stiftete nachdem er beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen war
er soll
erklärt uns Judith eine sechzigjährige Kollegin die hier Germanistik lehrt und wie durch Zauberhand erscheint
verbotenerweise Bücher der Harvard-Bibliothek mit auf den Ozeanriesen genommen haben
Judith glaubt natürlich Sabrina beginne hier das Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Harvard aber dann bewundert sie Sabrina ausdrücklich für die Earth Sciences am MIT und erzählt die Geschichte vom ewigen Speiseeis das es auf Anordnung der Mutter von Harry Elkins Widener in der Mensa immer geben müsse (da es sein Lieblingsdessert gewesen sei)