Babylon war sehr befreiend unser Ausflug sagt Farida das hat mir wirklich gutgetan
ich habe sie aus den Augen verloren
das ist die einfache und bittere Wahrheit der letzten Jahre in denen ich sehr froh war mein Arbeitspensum zu überleben die Kinder aufwachsen zu sehen und einmal in der Woche mit meinen immer weniger werdenden Freunden auf unsere Verluste zu trinken sie hatte nach zwei Jahren als Französischlehrerin an einer christlichen Schule nur noch zuhause als Übersetzerin gearbeitet bis es fast keine Aufträge mehr gab zumindest keine interessanten mehr wir leben in einem blitzsauberen wohlduftenden geordneten liebevoll eingerichteten und dekorierten Haus von
ihrer Hand
und denken nicht darüber nach wer es in diesem Zustand erhält
seit Sami und Muna sie kaum mehr benötigen hat sie vieles einfach nur für sich und für unsere Freunde übersetzt Blanchot erzählt sie jetzt wo ich sie endlich danach frage das sei ein Autor des
Desasters
der davon ausgehe dass wir uns schon immer im großen Unglück befänden obgleich uns das Desaster auch niemals wirklich zu erreichen scheine — ach was
mit dir
bin ich glücklich gewesen
in einem unglücklichen Land
Rarität
Ach, Gelegenheit und Liebe
verloren sich für manches Paar.
Bei uns die Nacht wurd’ nur zum Diebe
an dem Tag, der unser war.
Jede Zeit bliebst Du gefunden,
Herz vorm Auge, klage nicht.
Was andre kaum dem Tod entwunden,
streift’ ich als Tau vom Morgenlicht.
Lacht nur über mich, den Narren,
der nur die eine Frau gewann.
D e r Liebe braucht ihr nicht zu harren,
die der klügste Gott ersann.
Martin
Sonntag 8.9.2002 früher Morgen in der fast stillen Amsterdam Avenue
ich schreibe in mein Wühl-Buch oder Wut-Buch (Lebt man denn, wenn andre leben?) Stammelsätze eines
Bescheid-wissen-Wollens
von Verstehen-Wollen kann keine Rede sein ich suche nur (eben nur) solche Antworten die (auch) mir genügen meiner wütenden fassungslosen oft aber nur noch erschöpft vorantaumelnden Suche die nicht ablassen kann Seymour sagte mir dass man sie
MOLCHE
oder SCHWEINE (pigs)
nennt
jene automatischen Untersuchungs- und Reinigungssysteme die man in Öl-Pipelines einsetzt damit sie in langsamer zäher Fahrt unter Luftabschluss gewissenhaft den Zustand der Rohrsysteme prüfen Millimeter für Millimeter in den vereisten Steppenlandschaften der sibirischen Tundra ich reise (ausgestopft mit blinkendem High-Tech umfangen von Dunkelheit stets am Rand des Erstickens) in meiner Tunnelröhre nach
Afghanistan
heute Nacht wieder und jetzt vor den aufgeschlagenen Büchern vielleicht nur weil ich mit Seymour am Telefon darüber gesprochen hatte vielleicht nein bestimmt auch weil mich unser Plan heute (am Sonntag) Vormittag gemeinsam zu joggen mit Panik erfüllt ich erinnere mich gut an den März 2001 als die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan zerstörten (mein Fernsehblick und nicht die auf die Knochen und ins Herz gehende Sicht von einer eisverkrusteten Ebene aus hinauf zu der gewaltigen Felssperre im Hindukusch vor der die 35 und 50 Meter hohen Statuen in ihren Nischen nur wie träumende steinerne Weltsoldaten in kleinen Wachhäuschen wirkten) ich sah die Barbarei und verstand den Hass nicht und
ebenso wenig konnte ich mir ein halbes Jahr später erklären weshalb die Presse und die US-Regierung so schnell Osama bin Laden in seinem afghanischen Terroristen-Camp als Drahtzieher hatten ausmachen können (der alte Bekannte der er für sie tatsächlich auch war)
all die plötzlich klar erkenntlichen so schockierend breit und deutlich aufgezeigten Verbindungen nach Afghanistan
als hätten wir LAIEN jahrelang die Pfeiler von Autobahnbrücken in unseren Gärten übersehen
mühsam fasste ich wieder erste klare Gedanken (knapp vier Wochen nach dem Attentat) schon fielen amerikanische Bomben auf den Tora-Bora-Höhlenkomplex in Nangahar (Enduring
freedom)
und Ende November tagte die Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn und ich dachte weshalb in Deutschland um dann etwas über die Expedition von Niedermayer und von Hentig zu erfahren die im Jahre 1915 den Emir Habibullah überzeugen sollte gegen Russland und Britisch-Indien in den Krieg zu ziehen (vergeblich) 1924 war die deutsche Nejat-Oberrealschule in Kabul gegründet worden die sich zu einer Kaderschule der afghanischen Elite entwickelte 1937 kam es zur Einrichtung einer direkten Lufthansa-Flugverbindung Berlin-Kabul man baute Dämme Brücken Siemens-Hydroenergie-Anlagen herzliche Verbindungen der wahren Arier mit den noch wahreren (Ur-) Ariern die zunächst wohl gar nichts von ihrem rassischen Glück wussten
als ich in Berlin an meiner Doktorarbeit zu schreiben begann besuchte ich hin und wieder ehemalige Kommilitonen ein Pärchen das es dank einer Erbschaft zu einem Reihenhaus in Lankwitz gebracht hatte und zu der reichlich genutzten Möglichkeit ohne Geldsorgen weite Reisen auf Globetrotter-Niveau zu unternehmen ich betrachtete verständnislos einen roten fusseligen Wandteppich einen Kopfschmuck aus Goldmünzen verbeulte Teekessel und versilberte Wasserpfeifen Mitbringsel einer zweimonatigen Reise durch Afghanistan und sie verstanden genauso wenig
weshalb ich bald in die USA gehen wollte auch wenn der Vietnamkrieg jetzt beendet war erst als sie einige Studenten des Berlin-Programms der Stanford-University kennenlernten glaubten sie zu begreifen
cherchez la femme es ist wegen dieser blonden Amanda sagte mir die afghanische Beate in ihrem Lankwitzer Heim fröhlich ins Gesicht zwei drei Mal hatten wir auf ihrer ehemaligen Studentenwohnheim-Pritsche mehr schlecht als recht miteinander geschlafen (immer wieder hinaus- und hinabrutschend) und mochten uns trotzdem noch ich war dieser mutigen robusten rotlockigen Weltenbummlerin aus purer Angst davongelaufen den Kopf zu verlieren (Teile meines Großhirnareals glaubte ich schützen zu müssen für wen für was) ich wollte tatsächlich Amandas wegen wieder in die USA wie mir dann klar wurde gerade weil ich ja gar nicht mit ihr zusammen war sondern es nur ab und zu (minutenweise) auf Partys oder in den schummrigen alten Kinosälen in Kreuzberg oder im Wedding für möglich hielt dass die unwirklich hübsche Kalifornierin ein Interesse für mich hegen könnte
Amanda küsste mich zum ersten Mal in dem Lankwitzer Haus im Halbdunkel unter dem afghanischen Wandteppich
so spielerische ornamentale Verknüpfungen
Arabesken die zu Schlingen werden zu Strängen ich kann es nicht akzeptieren ich will diese irrsinnigen unnötigen Zynismen des Schicksals nicht wahrhaben
der Dichter über den Sabrina den alten Hafis kennenlernte (jenes mir entwendete Buch)
verliert seine dreijährige Tochter und seinen fünfjährigen Sohn in der Wende des Jahres 1833
ich höre Mahlers Vertonung die
Kindertotenlieder
Rückert schrieb mehr als vierhundert Gedichte nach dem Tod von Ernst und Luise ich habe nur Sabrinas Karton mit den beiden auf den Deckel geklebten Postkarten (jener Wein trinkende Greis in der Wüste und die ägyptische Sängerin) und die Idee die Vermutung vielmehr dass Gedichte sie trösteten
komme
um fünf Uhr morgens
der Welt abhanden in dieser achtlos gekauften Joggingkluft die ich im Dunkeln angezogen habe um darin vor meinem Fenster in der Amsterdam Avenue zu sitzen wie ein Clown (wollte ich mich lächerlich machen?) ich hätte
damals
nicht Amanda begehren lieben ihr in die USA folgen sollen (es ist keine Reise dachte ich damals es ist eine Ankunft)