Knochen begraben Mauern
das ist einmal interessant meinte Tarik und wir verstimmten meine Mutter wohl etwas weil sie spürte dass wir beide auf der Suche nach Marduk uns von Amran nicht hätten aufhalten lassen (ich bete nicht mehr)
die Leere
in Babylon
scheint mir heute
jetzt wo ich mich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere drehe mit der Aussicht in zwei Stunden vor der ganzen Klasse über die alte Stadt (das Zentrum der Welt) berichten zu müssen
nur darauf zurückzuführen zu sein dass Du nicht dabei warst Du hättest natürlich meiner Mutter zugestimmt und die Überreste von Amran Ibn Ali nicht stören wollen aber Du wärst vielleicht auf eine Art U-Bahn-Tunnel oder eine Sondierungs-Röhre verfallen in Deiner ausgleichenden und besonnenen Art
meine Eltern folgten mir
auf der Prozessionsstraße nach Norden hinter einem schmiedeeisernen Absperrzaun sah man das mit Bitumen verkrustete Pflaster der erste Asphalt der Welt als Unterlage für die Steinplatten der Königswege direkt aus der Unterwelt emporquellendes Pech der Totengöttin Ereschkigal verkrustetes Öl aus der Hölle vor Jahrtausenden schon
in der zu Teilen wiedererrichteten Südburg gerieten wir dann in stille schmale Gänge zwischen säuberlich rekonstruierten Mauern und Torbögen die vollkommen leeren Höfe öffneten sich und man erschrak immer ein wenig dort als wären die Priester Krieger Beamten Schreiber Händler Sklaven deren Gespräche und Verhandlungen noch eben die Räume erfüllt hatten blitzschnell und unmittelbar bevor wir über die Schwelle traten von Geisterhänden beseitigt worden
Mene tekel upharsin!
deklamierte Tarik
im Thronsaal der Herrscher von Babel es war nur ein großes steinernes Podest unter freiem Himmel ein haushoher dreifacher Torbogen dahinter führte zu nichts als einer glatt gemauerten Wand eine Art Mihrab der Könige erwartungslos und senkrecht ohne die Nischenkrümmung die man in den Moscheen findet die Vergangenheit ist nichts als
Stein und Fantasie
in jeden Ziegel aber
hat der PRÄSIDENT seinen Namen schlagen lassen
in jeder Wand findet sich ein Stein der IHN in arabischer Schrift als Wiedererbauer und Nachfolger preist ich möchte meinem Vater begreiflich machen dass mich nicht diese gewalttätigen Herrscher interessieren dass Saddam für mich kein kultivierter Babylonier sondern nur ein brutaler Assyrer-Herrscher ist dass ich etwas anderes suche eine Zukunft vielleicht
in der Tiefe der Zeit die keiner berührt
als wir erneut die Prozessionsstraße betraten gelangten wir zu den Überresten und Teilrekonstruktionen des Ischtar-Tores an der ursprünglichen Stelle am nördlichen Zugang zur Stadt an den Tonziegelwänden war die blaue Glasur verschwunden und die einst bemalten Reliefe der Drachen des Marduk und der Stiere des Adad schienen mit den Steinen zu verschwimmen oder auf deren Fugengitter aufzutauchen wie auf einem brüchigen in die Länge gezogenen Koordinatensystem historischer
Halluzinationen
ich berühre eines der heiligen Tiere an der Schulter und du
Schwester
gehst in Berlin vom Pergamonaltar her kommend mit einem Engelsschritt nach Babylon durch den Korridor der Jahrhunderte und legst die Hand auf die gleiche Stelle als spiegelten wir uns durch den Stein
hinter dem Trümmerfeld jenseits der Nordburg steigt das Gelände über ein Glacis einen Hügel mit streng in Reihe gestellten Palmen an zu einem Palast des
PRÄSIDENTEN
der es sich nicht nehmen ließ von hier aus auch noch die erloschene ausgebrannte zu Staub gemahlene Vergangenheit zu beherrschen die überdimensionierten Bogenfenster und schmalen Schießschartenschlitze in den ineinandergestaffelten Fassaden im Pseudo-Babylon-Stil lösen Schrecken und Befremden aus so als könnte man nicht wissen für welche Spezies dieser Bau geschaffen wurde für eine Art riesiger Wespen vielleicht oder die Drachenschlangen die der Sage nach in den Ruinen der Stadt hausen sollen
wir fotografierten uns schließlich
(Touristen
in unserem Leben)
vor dem berühmten Löwen von Babylon jener mächtigen ungeschlachten Skulptur auf dem kopfhohen prismenförmigen Sockel die Raubkatze die mit den Pranken auf den Schultern eines auf den Rücken geworfenen Menschen steht und nur einen Augenblick aufschaut bevor sie seinen Kopf zerbeißt
das Nationaldenkmal
sagte mein Vater Tarik der liegende Irak
der Ausblick auf den Palast verdarb ihm die Laune und sein Interesse für meine Erklärungen nahm spürbar ab
du musst ihn verstehen sagte Farida am Abend kurz vorm Einschlafen in unserem Hotelzimmer er macht sich Sorgen er kann schwer abschalten du darfst nicht glauben dass er dich nicht ernst nimmt er freut sich sehr darüber dass du dich so genau und wissenschaftlich für diese Dinge interessierst
weil das Hotel in Al-Hillah nur noch ein einziges voll eingerichtetes Zimmer vorweisen konnte hatte Tarik darauf bestanden dass wir Frauen es bezogen während er mit einem Bett in einem kahlgeräumten Raum vorliebnahm und so schlief ich (wie seit vielen Jahren nicht mehr) an der Seite meiner Mutter sie hatte sich über meine Begeisterung gefreut das alte Babylon für mein großes Referat direkt in Augenschein nehmen zu können und mir erklärt dass ich mir nur Sorgen um mein Vorankommen in der Schule zu machen brauche für alles andere seien sie nach wie vor da also
hätte ich ruhig schlafen müssen aber es gelang mir nicht obwohl ich Dich noch nicht so im Herzen im Gehirn in meiner Brust wühlen ließ Du warst gerade erst gegenüber eingezogen und noch nicht viel mehr als der freundliche junge Soldat der (zu dessen kreischendem Vergnügen) mit dem kleinen Achmed raufte Farida schnarchte ein wenig und ich konnte mich nicht mehr einfach an ihren Rücken schmiegen und in den Schlaf fallen wie in ein großes weiches dunkles Tuch ich dachte dass ich vielleicht bald ihr helfen müsste auch wenn ich überhaupt nicht wüsste wie
der Körper
der mich trösten konnte
war noch nicht in mir geboren in meiner Sehnsucht nach Dir
Geliebter
als wir anderntags nach Uruk weiterfuhren war ich seltsam fröhlich und ich steckte meine Eltern damit an und sie begannen plötzlich im Auto Lieder von Umm Kulthum zu singen
auf meinem Plan
faltet der Grundriss der Stadt seine rechteckigen Drachenflügel über dem Euphrat auf ich zeichne mit Kreide auf den von Sprüngen und Rissen durchzogenen Schiefer der alten Tafel unseres Klassenzimmers ich skizziere den Verlauf des Euphrat und der Außenmauern die Position der Tore die Lage der Brücken und der Tempel den quadratischen Sockel des Turms ich spreche frei flüssig leicht wie
ferngesteuert oder wie in einem Traum
von mir selbst über
Babylon
die Gesichter meiner Klassenkameradinnen scheinen zu müden Seerosenblüten verflacht vor dem Teichgrün der geschundenen Wände am Schluss reichte ich Fotokopien der Stadtzeichnungen des Berliners Robert Koldewey aus dem Jahr 1912 herum es sind perspektivische Ansichten des Südpalastes darunter und ich habe für Sekunden das absurde Gefühl als könnten meine Klassenkameradinnen dort auch mich und meine Eltern zu stecknadelkopfgroßen Tuschefigürchen verkleinert vor den schraffierten Mauern auf- und abgehen sehen
es fehle nur
noch einmal auf die bedeutende Rolle der irakischen Grabungen und Wiederaufbauten hinzuweisen und es wäre auch angebracht gewesen das Zitat aus dem historischen Werk unseres PRÄSIDENTEN das ich doch der schriftlichen Fassung meines Vortrags vorangestellt hatte