die Schweiz
wegen der Gletscherfarbe eine
Fliege landet auf dem Eis und gefriert bei 40 Grad im Schatten gefrieren uns die Knochen bei dem Gedanken an den Ort unserer Schwester
die Familie
ist ein einziger zusammenhängender Körper eine Verletzung an einer Stelle zieht unweigerlich alle anderen Teile in Mitleidenschaft ich erkenne ich spüre das jetzt und ich schreibe Babylon aber ich sehe
Paris schreibe Babylon
vor 2600 Jahren
wie unglaublich erwachsen und überlegen Jasmin damals für mich war
am Ziel meiner einzigen großen Reise im Sommer 1995 als ich mit Tarik zu ihr fliegen durfte über Amman der Reitelefant vor dem römischen Theater der mir so gut gefallen hatte steht mir wie eine Fotografie vor Augen ich entsinne mich auch genau an die zermürbende lange Fahrt auf der Wüstenstraße und an das Freiheitsglück meines ersten Flugs ich wollte Sami wäre dabei gewesen und hätte einen Blick in das wirkliche Cockpit werfen dürfen obwohl ja auch die Piloten an einem Simulator üben es war so
unwirklich und doch unbestreitbar wie im
LIFE SIMULATOR als Vater und ich in Paris ankamen Jasmin die ich seit meiner Schulzeit nur noch höchstens einmal im Jahr gesehen hatte kam mir wie eine Französin vor sie trug Lackschuhe und Jeans und eine schwarze kurzärmelige Bluse ich berührte und hielt umfasste immer wieder ihre gebräunten schlanken Arme die sich geduldig um mich legten sie war ein Wunder ein
geschenkter Mensch
dachte ich jemand der als Erwachsener mit der Frische und berauschenden Zugehörigkeit einer Geburt in dein Leben kommt
(wie Du
Geliebter
hinter dem Gletschereis von dem sich
plötzlich die Fliege wieder löst
ich läge jetzt so gerne neben Dir wie ich früher bei meiner Mutter gelegen habe und in jenem Hotel in Al-Hillah bei Babylon nicht mehr konnte an Deinen Rücken geschmiegt ohne Furcht ohne Erwartung)
ich sehe meine Schwester erneut wie
neu geboren wie in eine
Vergangenheit
gerettet vor den Aufzügen des Eiffelturms oder in einem der alten Parks im Louvre in der Metro auf einem Touristenboot auf der Seine in ihrem Studentenwohnheim auf einem Wochenmarkt ich finde sie so schön so feurig so stolz sie bringt mich in die Museen die ich damals schon liebte den Stein vor allem als hätte ich gewusst dass es besser gewesen wäre uns in empfindungslosen Marmor zu verwandeln
das Steingewicht meiner Schwester drückt meinen Oberkörper nach vorn ich träume von der Skulpturensammlung des Louvre und vom Musée Rodin und dem zu Stein gewordenen Kuss alles kann wiederauferstehen auf geschliffenen Marmorsockeln unter wunderbaren Glasdächern auf schönen glatten Treppen unser Leben wie jene von draußen hereingeholten Parkfiguren im Cour Marly
ich sagte nicht viel in diesen Pariser Tagen ich dachte vielleicht dass meine Geduld und mein Schweigen meine stärkste Kraft waren (sie sind es noch jetzt) fortwährend redeten debattierten stritten sich mein Vater und meine Schwester während wir durch den energischen Verkehrsfluss der französischen Stadt schwammen oft ohne genaues Ziel
Tarik kämpfte (nehme ich heute an) er wollte Jasmin überzeugen in Paris zu bleiben zu promovieren oder zu arbeiten ich verstand nicht genau weshalb und worüber sie stritten ich hörte nur immer wieder meine Schwester sagen
aber der Irak! aber der Irak!
und sie erhielt Unterstützung von Kasim den sie uns als älteren Kommilitonen vorstellte ich mochte ihn zunächst nicht sonderlich sein langer Hinterschädel und die dünnen Arme stießen mich ab man wusste nicht war er affenähnlich oder schon wieder auf eine Science-Fiction-hafte Art intellektuell aber er war sehr gewinnend und stellte uns im Studentenheim sein penibel aufgeräumtes und geordnetes recht großes Zimmer zur Verfügung immer wieder griff ich nach der Hand meines Vaters wohl weil ich spürte dass er die Auseinandersetzung mit Jasmin verlor und dann
abglitt träumerisch
versank er hatte hier doch studiert und so lange mit Farida gelebt hier war er Arzt geworden und von hier aus war Jasmin im Bauch meiner Mutter nach Bagdad zurückgekehrt vielleicht erschien ihm die Wiederkehr der Stadt dennoch wie ein kolossaler Traum denn in Momenten in denen er sich unbeobachtet fühlte prüfte er sie in ihren Details und betastete ungläubig und schamhaft die grün lackierten schmiedeeisernen Geländer die runden Marmortische der Cafés oder die druckfrischen Seiten in den Buchhandlungen
er trank Wein am helllichten Tag und
erinnerte sich wohl
an Dinge von denen er nicht sprechen konnte oder wollte
Jasmin sitzt gelassen
an einem Bistrotisch sie raucht sie hat ein Bein über das andere geschlagen ihre Sonnenbrille ist hoch in das schulterlange glänzende Haar geschoben so
perfekt
so unverletzt in der Glaspyramide der Vergangenheit
ich könnte zum Dach hinaufsteigen
es ist nur eine Treppe niemand achtet auf mich niemand hindert mich ich könnte Dich sehen und Dir mein Leid klagen ich könnte Dir erzählen dass ich in keinem anderen Land sein will als meine Familie dass ich gerade jetzt niemals gehen könnte dass meine Familie jetzt auch alles Geld brauchen wird um meine Schwester zu retten ich
sitze an meinem Tisch
Martin
Zehn Minuten lang
lief ich
nachdem ich mich von Seymour am Parkrand verabschiedet hatte und in Joggingkluft allein auf dem sonntäglich leeren Bürgersteig der Columbia Avenue gestanden war
ich verfiel
in Trab um den nächsten Block und konnte kaum aufhören obwohl mein Puls sofort in die Höhe ging wie der eines Untrainierten des Untrainierten der ich geworden bin
an meinem Schreibtisch
stehend
sah ich dann aus dem Fenster und wartete bis mein Körper sich beruhigt hatte bis die nun unvermeidlich durch mein Inneres tanzenden Flammen der Bewegungsfreude erloschen waren über die Bücherreihe unter der Fensterbank habe ich vor einigen Wochen einen Zettel angeheftet
Ich fühle nicht. Ich untersuche nur.
um
mir zu helfen
werde ich das Denken noch mehr brauchen als bisher denn jetzt wo ich Seymour fest zugesagt habe das Apartment für ein weiteres Jahr zu behalten wirkt meine Entscheidung (endlich) auch für mich unumstößlich obwohl sie es doch durch den Gastvorlesungsvertrag mit der Columbia für das jetzt beginnende akademische Jahr ohnehin schon war den Studenten denken zu helfen sehen zu helfen fragen zu helfen
mehr
kann ich nicht je
weniger Antworten desto besser was soll ich ihnen über Goethe und den Islam erzählen falls sie das wie Seymour meint jetzt besonders interessiert ich kann gewiss sagen dass er jeden Terror verabscheut hätte dass er weder Aufstände noch Revolutionen mochte und ebenso wenig Kriege er liebte die Ruhe die sich seinem staatsministerlichen Rat zufolge am besten dadurch herstellen ließ dass man Napoleon möglichst rasch seine Blutsteuer entrichtete jenes geforderte Quantum junges Männerfleisch nämlich das ER an einer beliebigen Stelle Europas zerhacken lassen konnte (es gibt nichts
zu verzeihen auch ich
war einmal ein junger Mann)
Goethe war ein Mann der Ordnung und der Jahrhunderte (Jahrtausende) der es für sinnlos erachtete etwas gegen die
GROSSEN DÄMONEN
seines Zeitalters unternehmen zu wollen er glaubte noch nach der Leipziger Völkerschlacht an Napoleons Sieg er hatte zwanzig Jahre lang die Kriege ins Land gehen und seinen Landesfürsten als preußischen französischen und russischen General in alle Richtungen fechten sehen also suchte er
den Schlaf (das Verschlafen der Geschichte) den Überblick
den Standpunkt unter dem sich nichts änderte
in der Ferne
leicht werden