möchte einfach nur gehen
draußen scheint die Sonne in die Straßenschluchten und in die Parks ich kann meine Mutter nicht verstehen die ihre Ehe mit Seymour eines untersetzten weniger attraktiven und nur mäßig witzigen Drehbuchschreibers wegen riskiert (oder ist das vorbei und Seymour bleibt deshalb so ruhig) was soll ich ihm sagen ich kann ihn doch nicht trösten das wäre lächerlich im Gegensatz zu Julia die meinen Vater» interessant «findet sind die älteren Männer für mich wie eine andere Säugetierart (größer und bedrohlich) mit der ich möglichst wenig zu schaffen haben möchte gerade auch wenn sie so väterlich tun aber Seymour hat von seinen Zwillingen her noch Übung und es gelingt ihm nicht selten
mich in lange Gespräche und Diskussionen zu verwickeln
(überlegt er jetzt wie er es dieses Mal anstellen kann obgleich er doch vorgab keine Zeit zu haben?)
vorwiegend indem er mich auf mein Studium anspricht als wüsste ich schon etwas nach einem einzigen Jahr am MIT über
die Erde
aus der er sein Lebtag lang
Öl gesaugt hat obgleich er aussieht als hätte er sie immer nur umsegelt jemand muss sich ja (behauptet er) um die Blutbahnen dieser grandiosen Häusermasse vor unserem Fenster (GET REAL) kümmern die Erdkruste mit Bohrern durchbrechen die sich heutzutage polypenartig ausgreifend durch die Gesteinsschichten fressen um den schwarzen Nektar zu saugen Martin erzählte mir dass Seymours Familie vor der Hitler-Armee aus Rotterdam habe fliehen müssen das Herz der Stadt wäre zerbombt worden und er glaube ein Mensch wie Seymour könne nur über ein Bild von Organisation und Macht zu seinen
Wurzeln zurückfinden
(Rotterdam als Industriezentrum der Panorama-Blick auf das mit Schornsteinen gespickte System flacher Inseln zwischen denen die Riesenschiffe wie Spielzeuge schwimmen Dutzende mächtiger weißer Tanks in parallelen Reihen geordnet verbunden durch ein laokoonisches Geflecht genau kontrollierter Pipelines entlang der 35 Kilometer langen Ausfahrt des Massvlakte Olie Terminals das jedes Jahr vierzig Millionen Tonnen Rohöl umschlägt)
was sind meine Wurzeln wie komme ich jetzt darauf wo ich mit meinem supererfolgreichen entspannten Stiefvater grünen Tee trinke
wenn du älter wirst
erklärt er ohne dass ich jetzt wüsste weshalb ich wäre nur zu gerne schon wieder draußen im Bryant Park oder im Central Park
dann fällt es dir leichter die Abstraktion wirklich ernst zu nehmen als tatsächlich wirksame und absolut gültige Abkürzung von Wirklichkeit
paper barrel
so nennen sie die Rechte zu Käufen von Öl die sie auf ihren Notebook-Monitoren in irgendeiner Flughafen-Lounge um die halbe Welt schießen
meine Papier-Wurzel
löst sich auf im Gespräch mit diesem Wirklichkeitsmenschen obwohl ich mich doch an die Erde klammere mit Hilfe der Differentialgleichungen und Computersimulationen des MIT ich kann niemals so real werden wie Seymour fürchte ich (wünsche ich) er spricht oft schon alles aus was ich ihm nur vorwerfen könnte und sagt selbst er sei ein
old fashioned man
ein Mann des alten Raubbau-Systems des bloßen Jagens Aussaugens Abfackelns der unwiederbringlichen Erdvorräte siech am Morbus Prometheus gezeichnet von der Feuerkrankheit eingesperrt in die Macho-Welt von Ölpumpen Förderplattformen Riesentankern und ihren überaus männerwirklichen
arabischen Verbindungen
special relationships
seit Franklin D. Roosevelt 1945 bei einer kleinen Vergnügungsfahrt durch den Suezkanal seinem auf dem Deck des Kreuzers USS Quincy zeltenden Gast Ibn Saud ein Flugzeug und einen Rollstuhl schenkte
Wasserstoffmotoren Solarzellen Geothermie
sagt Seymour (oft) das denkst du wird es sein und vielleicht hast du recht in dreißig oder vierzig Jahren
was soll ich ihm schon entgegenhalten ich muss mir immer wieder einschärfen dass diese Dinge diese politischen und historischen Verwicklungen wirklich (Abstraktion als Abkürzung) mit mir zu tun haben wohingegen er so verwachsen scheint mit dem Koloss unterhalb des Kolosses dass wohl seine Träume noch durch feine Pipelines strömen und winzige Turbinen in seinem Kopf antreiben mit deren Hilfe er drei Jahre über die ihm zugemessene Zeit hinaus leben können wird ich kann mich nur an das halten
was kommt
die Zukunft ist mein Korridor
ein kahler schwarzer unendlich langer Gang eigentlich dessen Grauen uns nur vom warmen Schein dieser und jener vermeintlich nahe liegenden Insel die wir sicher zu erreichen gedenken verschleiert wird also sinke ich zurück in die Gegenwart und versuche nicht nur Trotz und Abwehr zu sein sondern einfach nur
frei
zu atmen
I’m nobody! Who are you?
Are you nobody, too?
dann kann ich dir nur viel Glück wünschen du tust gut daran etwas Ungewöhnliches zu versuchen wenn man in deinem Alter nicht das ein oder andere ausprobiert wird man niemals zufrieden sein
sagt Seymour
als ich aufbreche und noch rasch meine Teetasse auf die Spüle stelle es ist mir peinlich
dass ich plötzlich so viel über Eric über meine Reisepläne und über meine Großeltern in Kalifornien erzählt habe er berührt nur leicht und aufmunternd meinen rechten Oberarm als wir uns verabschieden
ohne den Rucksack
stehe ich einen Augenblick
auf dem Grund der Little Brazil Street
wie betäubt
vor mir ein zehn Meter hohes aufgeklapptes Mobiltelefon und der riesige schwarze Schoßhund dem ich von der Küche aus in die Augen sah ist
aufgegangen
es gibt keine Freundin Mary mit einer geräumigen Studentenbude auf der Upper East Side bei der ich heute übernachten könnte
in der heranhastenden Menge (losgelassen von einer umspringenden Ampel)
möchte ich fast zurückgehen hochfahren in den 23. Stock und Seymour eingestehen dass ich ihn nur abwimmeln wollte
drehe mich jedoch entgegen der ursprünglich von mir eingeschlagenen Richtung der dunkle Gang der Zukunft ist voller gesichtsloser Menschen ich habe zwei oder drei Telefonnummern von College-Bekanntschaften bis zur Verabredung mit Eric sind es nur achtzehn Stunden zudem herrscht
bestes Sommerwetter
Liegst Du bei mir
Liegst Du bei mir, dann steht die Zeit
blind vor unserem Raum.
Ihr Auge ist Erinnerung
an unseren letzten Traum.
Öffnet sie das schwere Lid,
sieht sie uns schon nicht mehr.
Die Zukunft ist der Korridor
für meinen Weg zu Dir.
Liegst Du bei mir einst jeden Tag,
dann flute Zeit heran,
Vergangenheit wird Gegenwart,
ich frage nicht mehr: Wann?
Martin
Zähle beruhige dich nein
ordne deine Tage durch Nachzählen streiche
drei Jahre im Kalender Tag für Tag es sind
1001 Tage nach Sabrinas Tod
durch das Notizbuch in ihrem blauen Rucksack erfuhr ich zum ersten Mal von ihrer imaginären arabischen Prinzessin Luisa dagegen kannte diese Kindheits-Fantasie sie hatte mit ihr ganz nebenbei darüber gesprochen an einem Grillabend als sie sich über Literatur und die Märchen aus Tausendundeiner Nacht unterhielten die Sabrina auf eine in fantastischer Symbiose mit ihr lebenden Schwester gebracht hatten