ein athletischer Zwanzigjähriger
in einer der vorderen Reihen zumeist
sehr aufmerksam ja beinahe schon zu konzentriert zu angespannt
als ginge es um viel mehr als um Werthers Leiden eine Novelle von Kleist oder Aphorismen von Schopenhauer er hält sich vollkommen aufrecht anscheinend steht er unter einer ständigen inneren Anspannung die ihn fast vibrieren lässt er ist zu ernst zu verbissen um originell zu sein
wenn man Granateinschläge in unmittelbarer Nähe überlebt hat soll sich eine nahezu überirdische Heiterkeit einstellen die sekunden- oder minutenlange gefährliche Illusion göttergleicher Unverletzlichkeit
wenn die in dein Arschloch geflogen wäre! ruft Jonathan direkt aus einer flachen Sandkuhle heraus in die er sich gepresst hat er ist der Zweite von rechts auf jenem Mannschaftsraum-Foto des Zuges auf dem er ein großes Kampfmesser schwingt während Stuart selbst (Erster von links) sein Sturmgewehr auf die Füße von Michael richtet der sich das grüne T-Shirt bis über die Brustwarzen emporgezogen hat und sich mit obszön von unten her kommendem Blick an den Penis fasst genau wie jetzt im Sand vor Nasiriyah wo er ihn im Liegen aus der Uniform zerrt um auf die Seite zu urinieren keiner will sich einnässen wie eine Memme mitten im Gefecht die Aufputschmittel das Adrenalin der direkt aus den aufgerissenen Tüten gelöffelte Nescafé die Angst die Übermüdung des seit 30 Stunden schlaflos im Einsatz vorangetriebenen Körpers verwandeln
alles
in einen hyperrealen dreidimensionalen Film in dem man jedes Steinchen jeden Lichtreflex auf dem Metall der Waffen der Helme der Fahrzeuge jeden Schweißtropfen der Kameraden jedes Härchen auf der eigenen um den Gewehrgriff gebogenen rechten Hand am Abzug unter einer Lupe zu sehen glaubt wobei der Projektor dieser irren Wirklichkeit hin und wieder anhält das Zelluloid zu verbrennen scheint (nein es ist alles schon digital hochaufgelöst in Milliarden Pixel vom sandigen Grund bis zum jaulenden schier ockerfarbenen Himmel) dann plötzlich zu rasch wieder anspringt flimmert in grellen Farben explodiert
Artilleriefeuer der eigenen Truppen im Rücken und Jonathan der aus welchem dämlichen Grund auch immer sich hoch aufrichtet steht und dabei versucht eine Granate in den Unterlauf seines Gewehrs zu schieben
als drehten sie jäh den Ton ab
vielleicht weil ein dürrer Hund mit zerfetztem rechten Vorderlauf panisch auf die Brücke zuläuft die sich in eine gelbschwarze Sandraupe verwandelt dahinter die von Rauchwolken verfinsterte und verhüllte Stadt hauptsächlich Lehmziegelhäuser dicht zusammengeschoben scheinbar ohne trennende Straßen oder Plätze nichts als ferne staubige trostlos im Sand brütende Ansiedlungen und Dörfer sah man bislang
vom Irak
ein Land bevölkert scheinbar nur von im Hinterhalt liegenden Schützen gekrümmten schwarz vermummten alten Frauen wahnsinnigen oder komplett furchtlosen Bauern die ihre Schafe und Ziegen mitten durch die Lastwagen- und Panzerkolonnen treiben
was denkst du
wird sich bessern wenn du zu den Marines gehst
fragt der Herr Professor eines Tages in einem Seminarraum den alle Studenten außer Stuart gerade verlassen haben er hält sich aufrecht wie immer trägt ein Poloshirt das seine muskulösen Arme zur Geltung bringt hat aber die Hände in einer grundschülerhaften Wäscheklammerhaltung um die Kante des Schreibpults gelegt weshalb diskutiere ich mit ihm aber es wird keine richtige Diskussion noch nicht einmal eine Beratung ich bin nur neugierig und verlegen weil er mir eröffnet hat dass er zur Armee gehen würde statt einfach zu verschwinden was erwartet er von mir
sein regelmäßiges junges Gesicht unter den dichten schwarzen Haaren ist blass und wirkt etwas gedunsen sonst wäre es hübsch zu nennen so lange jedenfalls bis man diesen Zug von Verbitterung oder Entrüstung die Anzeichen von Unerfüllt-Sein (vielleicht nur das) entdeckt das er jetzt wohl hinter sich zu lassen versucht
ich beruhige mich nie ich bin immer allein auch wenn ich eine Freundin habe auch wenn ich Sport treibe es genügt gar nichts um ruhig zu werden und dann wieder regt mich nichts genügend auf wenn ich das möchte nie geht es um etwas wo nicht immer ein schrecklich deprimierender Rest verbleibt Langeweile oder Einsamkeit Sie würden sagen Ennui aber ich bin nicht blasiert es ist nur
dieses lächerliche Leben und das immer so weiter
verstehen Sie?
man hätte (ich hätte) weiter ausholen müssen
an diesem Punkt es fiel mir nur gerade kein passender Schriftsteller oder Philosoph ein den ich hätte zitieren können um nicht zu privat zu werden die Antwort
auf das lächerliche Dasein
hat er womöglich vor Nasiriyah gefunden ein Kompaktwerden der Dinge in Euphorie und Todesgefahr und Angst gleich wird er aufstehen und die zwanzig Meter zum nächsten Humvee nach vorn laufen für einen Augenblick kommt ihm der steinige Sandboden wie jener Strand auf Cape Cod vor an dem sie vor zwei Monaten fast in der gleichen Anordnung lagen (Jonathan links Michael rechts) mit Bermudashorts und jeder Menge Dosenbier Sonnenbrillen die glänzenden tränenförmigen Mini-Kopfhöher ihrer MP3-Player in den Ohren
ein winziges Tier eine Art Sandfloh oder eine kleine senffarbene Spinne vielleicht bemüht sich den rieselnden Abhang der Kuhle zu erklimmen in die er atmet
diese Idioten wir sollten –
sagt Michael der zu den Kerlen gehört für die das Töten das Töten-Dürfen und Töten-Müssen den großen Kick ausmacht den ausgesprochenen Hauptgrund seiner Zugehörigkeit zu den Marines
was sagst du wir sollten was du siehst
in das rote Loch in Michaels Hals du springst auf aber es ist eine Art rosa Sonne im Weg die zerreißt und unerträglich hell wird
friendly
fire
wird es einmal heißen
Stuart Weingart (24)
Muna
Wir (Sami und ich)
werden nach Wasiriya zurückkehren müssen spätestens am Ende dieses Semesters und wer weiß für wie lange
erst waren es die Bomben in der Luft die uns zusammentrieben jetzt sind es die Wölfe auf der Straße die Menschen ausrauben entführen niederschießen die dir ein Kopftuch aufzwingen und dich Hure nennen nachdem sie dich vergewaltigt haben noch zwei oder drei Wochen vielleicht werde ich zur Universität fahren können bevor man mich wieder
verbirgt
im Stammhaus unserer Familie
in dem alles begonnen hat mit Jasmins Hochzeit mit ihrem feigen Bräutigam Kasim und dem Major ich wollte nicht mehr unter dem Bett liegen und erdrückt werden sondern
obenauf
mit Dir
Geliebter aber ich versank ich jammerte presste mir die Fäuste auf die Ohren verbiss mich in meinen Fingerknöcheln krümmte mich vor Wut Angst Schmerz es gab kein Hinauffliegen mehr keine Fantasie eines Sich-in-die-Lüfte-Erhebens die stolze Dau des Königs wäre so schnell zerschossen und in Stücke gerissen worden in diesem wahnsinnigen Himmel über Bagdad unter dem wir leben mussten schwarz vom angezündeten Öl rot vom Wüstensand heftiger Stürme grell silbrig blitzend am hellen blauen Morgen ein heulender und krachender Deckel unter dem wir schmorten eine drückende Grabplatte Nächte in düsterem Violett erstickt an Teerfarbe durch die sich feurige Risse zogen bis in unsere verkrampften Eingeweide