Ginko- und Orangenbäumchen auf dem Dach sind weiterhin gepflegt denn Hind erinnert sich an jede Handbewegung ihres Vaters in dem kleinen Gärtchen auf dem Haus den Ginko muss ich schneiden sonst wird er dreißig Meter hoch sagt sie ich weiß gar nicht wie ich immer die Kraft aufbrachte ihre traurigen Briefe zu beantworten (mein Vater war so sanft meine Mutter ist so allein ich vermisse Achmed so ich kann es nicht ertragen wie mein Bruder Yusuf jeden Tag wütender wird wie sieht das Paradies für Mädchen aus) aber vielleicht half es mir auch und schließlich gab es in jedem Umschlag auch eine Nachricht von Dir
am Nachmittag liegen die beiden alten Häuser unheimlich still in der Hitze weiße Backsteine im Glutofen der Stadt ich bin als Vorletzte aus dem Bus gestiegen meine Knie zittern noch immer früher stellte ich mir jene zwei babylonischen Löwen an meinen Seiten vor die mich beschützten aber heute hätte ich vor ihnen Angst wenn ich Tarik von der Straßenkontrolle erzähle (und ich muss das tun) wird er mich nach Wasiriya zurückschicken da er es ja schon ständig erwägt und mir schon angekündigt hat dass ich allenfalls noch bis zum Semesterende in Betawiyn bleiben könne ohne Professor Fahmi hat es ja auch keinen Sinn mehr aber
was dann
Sami hat keine Nachricht hinterlassen Tarik kommt oft spät in der Nacht
vom Haus der Rikabis her hört man nichts es ist ja ohnehin still geworden in eines der Zimmer zog eine missmutige ältere Schwester des toten Gärtners als Aufpasserin wodurch es möglich wurde dass Du bliebst und Dein Onkel weiterhin den Rikabis die dringend benötigte Miete zahlt
das gedrückte Schweigen der beiden Häuser es ist als wäre es vom Lärm der Stadt ausgespart als wäre eine unsichtbare Dämmung oder Isolierung um uns herum geschlossen ich wasche mich langsam wie einen Säugling
die Orangenbäumchen tragen Früchte auf dem Dach
immer noch kann ich meine Hände nicht ruhig lassen nur ihr Seifenduft beruhigt mich ein wenig ich weiß dass man mich bald wieder verbergen und
schützen
wird
aber stell Dir vor Du flögest einmal (ohne Segel ohne Flügel) in diese Nachmittagsluft hinein
ein kurzes Stück nur mehr Kraft mehr Fantasie brauchst du gar nicht
und im Sprung erinnert sich etwas in Deinem Körper an den Garten der seit eintausendvierhundert Jahren mitten in Bagdad liegt an einem Tigris-Ufer das nur die Liebenden betreten dürfen die Wiesen leuchten unter Dir wie ganze Felder von ausgeschütteten Smaragden die Bäume blühen weiß und rosa Mandeln und Granatäpfel Orangen und Feigen die Blüten ungeahnter unerkannter Früchte empfangen dämpfen umschließen Deinen Fall Du siehst riechst spürst Blumen
Krokusse Narzissen Veilchen Rosen Lilien und Hyazinth-Anemonen Tulpen Jasmin
der Mohn
meiner kleinen Nächte
die blütenzarte Glätte die verborgenen
Spiegel
meines Körpers die sich öffnen es gibt keinen Tag mehr jenseits dieses Gartens glaub mir
für heute
Geliebter! deshalb bist Du geflogen und deshalb sprichst Du nicht und betest heute nur noch auf meinen Lippen was geschehen ist und was kommen wird hat der Blütenduft betäubt die Zeit ruht in der Narkose unserer großen
Sekunde
Du fällst in
Blüten und Licht in ein Meer davon und
niemals
warst Du so sehr am Leben dies ist Dein wachester Augenblick und Dein Leben davor und Dein Leben danach bleiben für immer ein Schlaf
einmal
musste es so kommen einmal mussten alle gegangen sein und die alten Häuser für uns leer stehen als käme niemand mehr heim Dein Herz jagt vor Angst aber nicht der Löwe des Kriegs schlägt es sondern die Gepardin ich
bin der Falke der Adler
das Lamm unter dem Löwen das sich nicht fürchtet sie
zerbrachen meine Schwester aber jetzt
bin Ich da
im Brand in den Flammen auf dem Gipfel dieses Nachmittags der Garten ist ein Turm über dem Krieg eine blühende Säule ein grün wirbelnder Wasserfall nur wenn Du springst wenn Du fliegst und wenn Du fällst kannst Du darin spazieren gehen und kommst Du
nieder zur Erde
Die Waage
Schwebt Wasser in der Hitze
der flirrenden Luft?
Sind die Flügel des Raben vor deinen Augen
die Nacht?
Liest die Vergangenheit die Wünsche
von den Lippen der Zukunft?
Steigt oder sinkt der Ball
auf der Waage der Fotografie?
Indizien oder Beweise?
Ertrinke am Durst.
Darbe in der Fülle.
Schließ deine Augen und sieh!
Martin
Auch das Abgenutzte und Schäbige der Flugzeuge die im inländischen Verkehr eingesetzt werden kann zur Nostalgie des Wahl-Amerikaners beitragen ich falle (erstaunlicherweise glücklicherweise) immer wieder für Minuten oder Viertelstunden sogar in eine Art emotionalen Trott in dem mir alles wie vor zehn Jahren zu sein scheint auf meinem Flug von New York City nach Boston als würde ich am Logan Airport in meinen längst gestohlenen alten Ford steigen und nach Amherst fahren können zurück in ein mir heute so unbeschädigt vorkommendes Leben dass es ohnehin bald zerplatzen müsste wie eine überreife Weinbeere oder eine zu prall aufgeblasene Disney-Figur
dass du das Haus in Amherst verkauft hast
sagte Seymour
hat mich wirklich beeindruckt
es wartet also nichts (keine weiteren Gegenstände oder Immobilien) auf mich als die enge Wohnung beim Campus von Tufts und ich hätte doch nicht
gequält und verzückt die halbe Nacht
von Amanda träumen müssen es ist aber so (wie Seymour gestern nicht umhin konnte zu bemerken) dass ich auch um Amanda trauern muss dass ich durch das
Verpanzerungsgefühl
sie sei bei einer Katastrophe ums Leben gekommen die sich bereits etliche Jahre vor Sabrinas Tod ereignet habe
hindurch muss zu dem ganzen Ausmaß des
simultanen doppelten Verlusts
ich hätte vielleicht nicht mit Seymour zu Abend essen sollen obwohl mein Transatlantikflug von Frankfurt nach New York City ging mit zwei Stunden Aufenthalt wäre ich gleich nach Boston weitergekommen aber ich hatte es doch auch gewollt ich wechsle jeden Monat eine E-Mail mit Seymour und brauche mich meines Bedürfnisses ihn zu treffen nicht zu schämen auch wenn Amanda in seinem Leben (reziprokes emotionales Koordinatensystem) wohl später verunglückte als meine Tochter
Seymour (schwarzes kurzärmeliges Hemd graue Hose gut rasiert und gepflegt aber blässer dünner als früher vielleicht auch wieder gesünder) holte mich an der Penn Station ab wir wechselten einige Floskeln und gingen hinaus der dröhnende Sommerabend im Garment District überfiel uns die Vertikalen der Sixth Avenue schienen im ersten Augenblick wie gerade fallende Mikadostäbe vom Lot abzuweichen und sich zu kreuzen unheimlich und doch vertraut war mir das fast als kehrte Gulliver ins Land der Riesen zurück
WAIT
FOR
WALK
SIGNAL
mein schlechtes Gewissen wurde betäubt durch das gemeinsame rasche Vorangehen es konnte nur Luisa sein vor der ich mich schämte wo hatte ich einmal etwas gelesen was damit zusammenhing bei Walter Benjamin fiel mir ein es war eine Meditation über die toten Frauen der Geschichte deren Reize und Schönheit wir niemals erfahren haben und erfahren werden war ich nicht deshalb oder auf ähnlichem Wege auf mein Projekt Goethe lieben gekommen
an Bord eines veralteten Flugzeugs irgendwo über Connecticut kann ich mir auch die Einsamkeit die Angst und schließlich die
(unangebrachte) Wut auf Luisa
eingestehen die mich vergangene Nacht Amanda wieder begehren ließen selbst jetzt noch mit offenen Augen durch das Bordfenster in die stahlblaue Luft starrend kann ich kurze erregende Zwischenbilder erzeugen es ist eine Art hastigen erotischen Rückblätterns in meinem Leben dieses Mal aber zu den (wenigen) Frauen vor Amanda zu einigen