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daguerreotypisierten Miniaturen

meiner ehemaligen körperlichen Leidenschaft

wie geht es dir WIRKLICH fragte mich Seymour gestern vor Macy’s

THE WORLD’S LARGEST STORE

und fast hätte ich ihm von meiner dummen Berliner Affäre im Frühjahr 2003 erzählt diese animalische glücklose Ausflucht mit der Krankenschwester die mir Luisa zunächst leichthin verziehen zu haben schien (aber wie hätte sie es denn so rasch bewältigen können) der Jetlag wirkte fast wie ein Rausch diese absurd erscheinende Müdigkeit am frühen Abend der reine Alkohol verdrehter Zeit stieg mir zu Kopf und machte mich immer offener und leutseliger anlehnungsbedürftig infolge eines interkontinentalen Schwindelgefühls (im Grunde mein Zustand seit dreißig Jahren) ich wollte mich trotz Seymours Angebot nicht ausruhen sondern gleich auf die Ortszeit umstellen wir konnten uns frei bewegen weil ich meinen Koffer in einem Schließfach an der Penn Station untergebracht hatte und nur einen Daypack mit dem Nötigsten für eine Übernachtung trug

die Anlage ist viel schöner heutzutage aber sonst ist es wie in den Siebzigern

meinte Seymour als wir uns an einen grün lackierten Metalltisch im Bryant Park setzten fast hätte ich widersprochen weil ich in meinem Zustand (es war etwa ein Uhr morgens und die Julisonne schien noch kräftig durch die Baumblätter über uns und auf die Front der Public Library) annahm die Siebziger seien jene Zeit gewesen in der Seymour und ich uns so oft hier gesehen hatten

eine prekäre Wirtschaftslage und der Krieg fuhr Seymour fort damals gab es hier vor allem Drogendealer und Junkies jetzt haben wir jeden Mittag einen großen Lunch von sauberen Touristen und sauberen Geschäftsleuten nur der Krieg wird allmählich so dreckig wie der in Vietnam ich muss dir (aber mehr noch Luisa) Abbitte leisten weil mich die Drohungen mit den irakischen Massenvernichtungswaffen und Al-Qaida-Verbindungen doch beeindruckt hatten es ist furchtbar und was mich besonders wahnsinnig macht ist dass uns nun die gleichen Leute die vor 9/11 die Gefahr eines großen Terroranschlags heruntergespielt haben mit der gleichen Chuzpe versichern sie hätten die Entwicklung im Irak im Griff was sagst du

dasselbe (sagte ich) ziemlich erstaunt über die Entwicklung meines

Leidensgenossen

es ist eine große Scheiße fuhr er fort

THE BIG SHIT

und das war nun wirklich genug um von unseren Gartenstühlen aus emporzuschweben bis auf die Haupttreppe vor den weißen Säulen der Public Library wo wir dann wie weiland Dean Martin und Frank Sinatra unser

MESOPOTAMISCHES KRIEGSDUETT

vortrugen

in oratorischer Manier (völlig reimlos aber nicht disharmonisch)

SEYMOUR alles in Ordnung? nichts ist in Ordnung!

MARTIN der Zivilverwalter macht sich zwei Tage vor seinem offiziellen Abgang aus dem Staub

SEYMOUR (hastige Übergabe des gesamten Landes als heißes Eisen in die ausgestreckten nackten Hände der Einheimischen)

MARTIN so musste er nicht befürchten zu den Opfern von 2000 Anschlägen in seinem Abschiedsmonat zu gehören

SEYMOUR was ist schon geschehen?

MARTIN die stärkste Armee der Welt erobert in drei Wochen die Hauptstadt eines Dritte-Welt-Landes vertreibt den blutigen Diktator seine Geheimdienste die Armee Partei und Polizei und wartet auf den Applaus der nicht kommt

SEYMOUR stattdessen zerbricht das Land in die Stücke

MARTIN die die Experten schon vorher kannten

SEYMOUR die meisten Bewohner fühlen sich nicht befreit

MARTIN sondern überfallen und besetzt

SEYMOUR ein Guerilla-Krieg bricht aus

MARTIN auf den man weder gefasst noch vorbereitet ist

SEYMOUR der von der hiesigen Regierung so lange ignoriert und verharmlost wird

MARTIN bis das vergossene Blut und das Versagen der zivilen und militärischen Besetzer zum Himmel (der internationalen Presse) schreit

SEYMOUR aber jetzt gehört der Porzellanladen wirklich UNS und WIR stehen mittendrin

MARTIN mit einem wütenden Kampfhund einem Care-Paket und einer Blindenbinde am Arm

SEYMOUR stolpert nicht über die leeren Benzinkanister!

MARTIN do no bodycounts!

SEYMOUR aber jede Schwundstufe eures Nicht-Denkens kostet Zehntausende das Leben

MARTIN (sehr hegelianisch ausgedrückt mein Lieber)

SEYMOUR aber nur so in etwa — denn hier übergeben wir

MARTIN an die Statistiker Historiker und Richter der Zukunft

SEYMOUR mögen sie es besser wissen als wir

MARTIN die wir zusahen

SEYMOUR und MARTIN Amen!

bist du eingeschlafen? was träumst du? Seymour wirkte belustigt und schien unser Duett gleich nach dem Schlussakkord wieder vergessen zu haben

deshalb musste ich mich gewissermaßen kneifen und sagen: ich war leider nicht so entschieden gegen den Krieg wie Luisa

wie geht es ihr?

seit vier Wochen (gab ich gegen einen größeren Widerstand zu) hatte ich kein Wort mehr von ihr gehört und jetzt wusste ich nicht –

Seymour sah mich auffordernd an und so erklärte ich mit einem Mal dass das was ich nicht wisse die richtige Entscheidung darüber sei ob man nach einem wiederholten Wahlsieg von Bush das Land verlassen solle

ganz Bagdad wird aufatmen wenn du das tust und Rumsfeld wird dir einen Zettel auf den Koffer kleben» Old Europe goes home!«Seymour hob seinen Pappbecher mit Kaffee (während des Kriegsduetts hatten wir uns beide einen solchen besorgt) und fuhr mit einem deutschen Satz fort: Schuster wo ist deine Leisten? dahinten oder etwa nicht? (auf die Public Library deutend) deine Studenten sitzen auf den Treppenstufen und warten auf Erklärungen du kannst mich als Gastredner einladen der erklärt dass die Ölindustrie keinen Wert darauf legt Gefangene zu foltern

Stuart Weingart sollte dort sitzen dachte ich im schon diffusen und wie staubigen Sommerabendlicht konnte meine Jetlag-geschädigte Fantasie ihn aber nicht mehr heraufbeschwören ich hatte mich mit dem Duett verausgabt und alles blieb wie es war nur ich selbst drohte in mir einzusinken als löste etwas meine Muskeln auf und plötzlich fiel mir ein dass sich unter dem schwarzen Hemd das Seymour trug große OP-Narben befinden mussten dennoch trank er normalen Kaffee

die Aussage des Waffenexperten der nach einjähriger Untersuchung im Irak festgestellt habe man sei darauf hereingefallen dass das Saddam-Regime so getan hätte als besitze es Massenvernichtungswaffen fasziniere ihn noch immer und noch mehr dieser Paul Bremer III der sich nun nach einem Jahr verabschiedet habe anscheinend ohne den geringsten Kratzer an seinem missionarischen Selbstbewusstsein zu nehmen als God’s own man gewiss um in Ruhe ein Buch zu schreiben so wie es ja allgemein üblich geworden wäre bei den hohen Funktionsträgern sogar bei dem militärischen Oberbefehlshaber der kaum habe der Krieg begonnen in Rente gegangen sei um in seinen Memoiren weiterzukämpfen

du redest wie Luisa (und hättest doch tatsächlich mit mir singen können) konnte ich mir nicht verkneifen festzustellen

mag sein — aber was denkst du

das Sich-zurückziehen-Können das ist das was ich mit TURM meine sagte ich (wie eingemauert in meine Reisemüdigkeit) sie fungieren als Staatsorgane und ziehen sich dann als Bürger hinter die Mauern zurück der Staat oder Goyas Riese das ist der Titan der in der Geschichte agiert er lebt davon oder dadurch dass er seinen Bürgern glaubhaft macht er sei die stärkste Gewalt der größte der für sie verfügbaren Türme und er versorge sie mit allem ohne dass ihnen viel dabei geschieht

aber dann dürfte er doch keinen Krieg führen

keinen verheerenden Krieg für uns — unter normalen Umständen — aber unter unseren Umständen musste man oder mussten WIR einen Krieg führen damit alle Welt wieder glaubt dass wir der hegemoniale Turm sind und nie wieder so verletzt werden können wie wir verletzt wurden — einige von uns — wir –