danke (sagte Seymour) aber deine Theorie gefällt mir nicht
weil es eine Theorie ist und für dich im Grunde etwas Frivoles
nein (er trank seinen Kaffee mit sehr kleinen Schlucken als schadete er ihm dann weniger) das ist es nicht was mich stört mir gefällt nicht dass diese Theorie rein formal ist ohne Inhalt bei deinem Modell kann ich nicht unterscheiden ob ich in einer Demokratie lebe oder in einer Diktatur
eben darüber mache ich mir ja Gedanken –
wenn wir uns nach außen hin wie Barbaren benehmen (meinst du) wie sollen dann die Anderen glauben dass unser innenpolitisches Modell das Zivilisierteste ist?
so ähnlich sagte ich mit Blick auf die im Abendlicht schimmernden Säulen der Public Library auf das große Billardtuch der Wiese davor und die allmählich ruhiger und gelassener durch den Park gehenden Leute seltsamerweise war es mir unangenehm dass Seymour die Dinge nun ähnlich sah wie ich vielleicht glaubte ich ihm das nicht wirklich oder ich verdächtigte ihn übertriebener Höflichkeit da ich noch wenigstens zwei Stunden wach bleiben wollte brachen wir auf zu einem Restaurant in der 52. Straße das er vorschlug ich sprach (zu meiner eigenen Überraschung recht ausführlich) von meinen Recherchen in Berlin während der letzten vier Wochen und auch darüber dass ich zwar Goethes Frauen aufgegeben hätte nicht aber das Goethe-Thema selbst das mir wieder sehr aktuell erschiene im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Krieg und von Fortschritt und Barbarei
Goethe war Araber ich erinnere mich sagte Seymour er wurde vom Fortschritt überrollt
er hat auch angegriffen oder besser er fuhr beim Angriff mit ich erzählte von der preußisch-österreichischen Kampagne gegen das republikanische Frankreich an der Goethe teilgenommen habe als eine Art embedded poet in einer Chaise sitzend oder zu Pferd ein manchmal gut abgepolsterter manchmal aber auch gefährdeter und ausgesetzter Beobachter von Zeltfesten gemütlichen dann aber doch blutigen Beschießungen Salonkonversationen und jähen Gemetzeln bis hin zum Rückzug in Dreck und Elend unter der Geißel verheerender Seuchen er habe sich mit physikalischen Lehrbüchern und seiner Farbenlehre abgelenkt für ihn sei die Republik des Geistes und der Dichtung das Wirkliche gewesen vielleicht fühlte er sich als Abgesandter einer zivilisierteren Zukunft die immer noch nicht eingetreten sei
also Goethe sind wir
wenn ich das richtig verstanden habe meinte Seymour auf der Avenue of the Americans vor dem Hintergrund der Rockefeller Plaza
bezüglich der Chaise und der abgehobenen Betrachtungen gab ich ihm recht
eingebettete Nachrichten-Konsumenten die mit ihren Farbtäfelchen spielen während die Soldaten verrecken
die Iraker hauptsächlich warf ich ein
Seymour blieb einen Augenblick stehen als müsse er sich darauf besinnen dass er mit mir einer Meinung sein wollte (jäh beim Blick über seine Schulter in den Hintergrund der Rücksturz in den Winter: der riesige Weihnachtsbaum in den Channel Gardens darum gruppiert weiße Draht-Engel in Giraffengröße mit Draht-Posaunen Sabrinas sechs- oder siebenjährige Hand in die meine fliegend weil sie sich vor ihnen fürchtete sie seien nämlich wie heilige Skelette) so dass die Menge auf uns auflief und wir weiter voran mussten zwei alte Gäule die ihre Chaise zogen mager jedoch nicht aus Futtermangel denn Seymour hatte bestimmt seine Million(en) gemacht und diese Neuentwicklung die aus dem lautstarken strahlenden sportiven aber doch wohl zu massigen Mittfünfziger mit Herzproblemen einen schlankeren und ziemlich nachdenklichen Sechzigjährigen mit gut gewarteten Bypässen herausschälte war ja zu begrüßen — angenehm — erleichternd — was magst du ihn so er hat dir deine Frau weggenommen! wollte etwas in mir ausrufen aber es war nur ein Schatten aus einem anderen Leben der sich aus dem
Rückblick
ergab oder aus einer Art Eingeholt-Werden denn tatsächlich schien sich alles zu wiederholen der Vietnamkrieg (zumindest in einigen wichtigen Aspekten) eine Beziehungskrise (dieses Mal wenigstens ohne Kind) ich hatte ein Jetlag in meinem Leben würde ich nur wieder trinken dann könnte ich vielleicht mit Genuss in diese Spirale hineinfallen –
Lusia hat gewiss ihre eigene Meinung zu Bush und zu Mrs Rice meinte Seymour
sie nennt sie Dr Jekyll und Mr Hyde
Mr Hyde als das demokratische Böse ich sehe schon sie legt es auf die Bewusstseinsspaltung an Seymour war halb amüsiert ich denke Bush kann wirklich abschalten er weiß nicht was er anrichtet oder er schafft es irgendwie das nicht wissen zu wollen das unterscheidet ihn von Napoleon der das zynisch in Kauf genommen und damit geprahlt hat
vielleicht erreicht er noch ähnliche Dimensionen was die Zahl der Kriegsopfer anlangt die Grande Armée bestand aus 600 000 Mann und davon kehrten 100 000 aus Russland zurück in drei oder vier Jahren –
nein keineswegs sagte Seymour erschrocken so lange werden wir dort nicht sein
weshalb aber (fragte er bald darauf als wir im Restaurant seiner Wahl saßen einer angenehm kühlen Höhle ausstaffiert mit roten Lederpolstern Damasttischdecken Silbermessern und Kristallgläsern) halten wir so still? weshalb gibt es keine Demonstrationen keine Studentenproteste im großen Stil keine wütenden Artikel-Serien dass du (er sah mich etwas mitleidig an) als Deutscher (ein Jetlag-Volk) eine Art
Beißhemmung
hast (der Holocaust der Zweite Weltkrieg die Befreiung vom Faschismus) kann ich verstehen aber was habe ich weshalb fühle ich mich nur deprimiert und gelähmt
weil deine Eltern aus Rotterdam gerade noch rechtzeitig in die USA fliehen konnten hätte ich hier einwenden sollen aber ich sagte wir seien deprimiert weil wir nichts tun könnten und erzählte ihm dann dass ich überlegte nach Tel Aviv zu gehen da ich ein Angebot für eine Gastprofessur erhalten hatte
ohne Luisa? und nur wenn Bush noch einmal die Wahlen gewinnt? oder weil die Israelis die wahren Kriegsgegner sind? was soll denn das? Seymour schüttelte den Kopf und setzte mir das Stethoskop auf die Brust: ich denke du willst alles durcheinanderbringen um bessere Gründe dafür zu haben dass du so durcheinander bist
blöder Ölbohrer! dachte ich um ihm dann unnötigerweise zu versichern dass es ebenso ein anderes Israel gäbe wie ein anderes Amerika ich bestellte ein alkoholfreies Bier (im Kristallglas) und versuchte mich zu entspannen weil ich selbst in meiner Jetlag-Eintrübung bemerken musste dass Seymour der einzige Mensch war mit dem ich noch ausführliche politische Dispute hatte und das sogar gerne (während ich mich meinen Studenten gegenüber innerlich wand und sehr gefiltert und kontrolliert sprach) und dass er auch der Einzige war mit dem ich über Luisa redete auch wenn ich ihm kaum etwas sagte Tel Aviv um meine Verwirrung noch zu steigern natürlich war es das während ich geglaubt hatte ich ginge damit näher an den Konflikt heran um klarer sehen zu können
wir denken oder
werden zu denken angehalten
dass (das Bier erschien und ich versuchte den Schaum in meinem übermüdeten Kopf wegzublasen) wir ohnehin nichts mehr ändern können wir haben paralysiert dem Angriff zugesehen weil wir was auch immer wir glaubten oder nicht glaubten dachten dass wir ihn ohnehin nicht würden verhindern können und weil wir für das massenmörderische Saddam-Regime keinen Finger rühren wollten und jetzt denken wir wiederum (oder werden wiederum zu denken angehalten) dass es
ohnehin keine Wahl mehr gibt ergänzte Seymour der sich Mineralwasser und ein Glas Rotwein (gesund fürs Herz?) bestellt hatte weil wir nun einmal dort sind und dafür Sorge tragen müssen dass der Bürgerkrieg nicht ausbricht und das Land den Übergang zur Demokratie schafft
wobei wir von den Irakern erwarten dass sie mit kaum etwas anderem vor Augen als Krieg Okkupation Gewalt und Chaos sich vor den Wahllokalen als Zielscheibe anstellen