um langsamer und sehender (andächtiger) anzukommen nehme ich die Fähre zur Rowes Wharf mit der ich zum letzten Mal im Sommer 2000 gemeinsam mit Sabrina gefahren bin als wir zusammen zurückkehrten ich von meinen Studien in Frankfurt und Weimar sie von ihrer Europareise
durch das von Tropfen besprühte und von Reflexen übersprühte Glas der Fährkabine verwischt und übersteigert sich der Anblick der Waterfront so dass das wochenlang an die europäischen Eng- und Kleinmaße adaptierte Auge sich auf die Steinriffe Manhattans zuzubewegen wähnt
weißt du ich kann hier schon leben sagt Sabrina von der italienischen Sonne gebräunt draußen an der Reling ihren schwer bepackten Rucksack mit den Knien gegen die weißen Metallstäbe pressend
weshalb nicht denke ich ergeben und optimistisch zugleich sie würde hier studieren und sich auch am MIT behaupten die Reise mir ihrer Cousine hatte ihr mehr Selbstbewusstsein und Unternehmungsgeist verliehen sie wird es schaffen ich sehe über das Wasser und versuche möglichst viel von der Zuversicht und kühlen Vitalität des Financial District in mich aufzunehmen von der Business-Energie und Dynamik der Stadt (der Bürgermeister und der größte Gangster können schon mal leibliche Brüder sein) Boston ist überschaubar es hat eine gediegene Modernität nichts Überwältigendes
Sabrina erzählte und ich hätte zuhören sollen
der ruhige Wasserspiegel der Hafeneinfahrt fließt zinnfarben träge und gelassen zum Torbogen an der Rowes Wharf hinter der einzelne hohe Gebäude emporragen eng gestellt und vage zusammenhängend
wie Burgtürme oder eher noch wie die Felsen der
Toteninsel
es ist für einen Augenblick
eine so zwingende visuelle Überblendung der Hafeneinfahrt mit Böcklins Gemälde dass ich um meinen Verstand fürchte ich hätte nicht von Hitler und Berchtesgaden erzählen sollen es verdarb ihr die Faszination an dem Bild Sabrina vergisst nichts sie sucht und archiviert Details
der kleine golden gewandete Mohr und sein schwarzer Tanzbär auf einer Plakette in einer hölzernen Standuhr im Frankfurter Goethe-Haus
oder jene
winged skulls die geflügelten Totenschädel die man in den Scheitelpunkt der Grabsteine auf dem hiesigen Friedhof Copp’s Hill einmeißelte als Goethe nach Frankreich fuhr (Sabrina erinnerte sich in Boston nicht mehr an die Skelett-Engel in den Channel Gardens)
vor einer Backsteinmauer eine völlig weiße Statue Franz von Assisis mit einem weißen Spatz auf der Schulter
jenes Gebilde wie aus einem großen zerfetzten Papiertaschentuch geformt eine Haube über dem verschwommenen gelblichen Gesichtsoval die älteste Puppe Amerikas (des weißen Nordamerikas) unter einer Vitrine in Deerfield
das nächste Mal
verspreche ich
wenn wir ausgeschlafen sind
werden wir gemeinsam den ganzen Freedom Trail entlanggehen der Linie folgend die vom Boston Common bis nach Charlestown führt schwarzes und rotes Blut gemischt zur paradoxen Hahnenkammfarbe der Freiheit ein zertretenes schmales Band das über die Bürgersteige und Straßen um die Häuserecken und durch die Parks läuft alles schon so lange her wie jenes 1770 von den Engländern an UNS begangene MASSAKER (5 Tote) vor dem Old State House
wenn du über die Brücke fährst sage ich (wieder und wieder) kommst du nachhause
es sollte ja nur den Weg ins akademische Leben weisen nach Cambridge worüber kann ich denn sonst reden was kenne ich denn sonst weshalb
hat sie mich nicht angerufen
an ihrem letzten Tag
fahre in einem Waggon der Red Line nach Cambridge über die Longfellow-Brücke und du tauchst unvermutet ins Licht du siehst die Hochhäuser der Back Bay und des South End der Charles River wird zu einer uferlosen Front wenn du die Augen zunächst schließt und dann im richtigen Moment öffnest weshalb kam Sabrina auf die Idee sich auf die Bank mir gegenüber zu setzen es fehlte (für zwei oder drei Sekunden vielleicht) jede irdische Nahumgebung die Gleise waren so geneigt dass es nur noch Wasser- und Himmelsbläue gab die Köpfe und Oberkörper der Passagiere auf Sabrinas Seite schienen vor einem Blue Screen zu schweben wie biblische Figuren auf einem Gemälde von Raffael oder Michelangelo ganz so als
kämen sie
nicht mehr zurück
Muna
Es ist jetzt endlich heiß genug in der Hitze am späten Nachmittag noch drückt der weißlich fahle Himmel einen Knebel aus stickiger Luft auf die Stadt fast wie das mit einem alten Leintuch überspannte Kissen über das Miral die Teigfladen ausbreitet ich hebe den Deckel des Ofens und sehe durch einen Kreis von in den Boden gestanzten Löchern die blauen Gasflammen schlagen stürze hinein in einen Zylinder aus dunkel bebender Luft ich fürchte mich nicht will ich manchmal laut ausrufen es geschieht euch gar nichts dort eure Körper beherrschen das Spiel lasst euch nur fallen und seht euch vor denn
jetzt hat die Eisenwandung die nötige Temperatur und wir können beginnen wir drei Cousinen in unseren leichten weiten Hauskleidern es beruhigt mich und tröstet mich ja auch
aus dem siebten nein sagen wir dem vierten Himmel jenem der kurzen oder vielleicht nur machtvoll eingebildeten Wonnen
wieder in die Familie
zurückzufallen
mit Sara und Miral spielte ich schon immer (seit Jahrtausenden im Schatten des Turms) und auch jetzt wo wir alle drei Anfang zwanzig sind kann es zu einem fröhlichen und ausgelassenen Miteinander kommen als verkleideten wir noch unsere Puppen oder hüpften nacheinander in die Quadrate von Himmel und Hölle aber sonst ist nichts mehr wie damals als wir den älteren Frauen nur zuschauen durften die Hefeteigkugeln auf dem mehlbestäubten Tablett vor Saras Platz am Gartentisch bilden eine glatte weibliche Landschaft wunderbar aber langweilig auf einem schneebedeckten Mond glatt schwellend unberührt eintönig perfekt man weiß nicht ob man sie unter Vitrinen versiegeln möchte oder seine Zähne in sie schlagen will stell dir eine königliche Liebe vor einfach und majestätisch kostbar und blendend (hinter deinen geschlossenen Lidern Saphire Rubine Himmelsplitter leuchtende Spiralen unter deiner Haut) alles ohne den geringsten käuflichen
Schmuck
dieses Mal sah ich
den Major
nicht zwischen herabhängenden Goldkettchen
aber es war wiederum auf einem Suk dem kleinen Lebensmittelmarkt ganz in der Nähe im relativ sicheren Wasiriya durfte ich in den vergangenen Wochen dreimal alleine einkaufen und beim dritten Mal stand er plötzlich vor mir in Jeans und einem grün-weiß karierten Hemd so ungewohnt dass ich vergaß
laut aufzuschreien
wenn du
die Wahrheit wissen möchtest mein Täubchen dann
hörst du jetzt einfach zu und bleibst still ich blieb weil ich mich vor Schreck ohnehin nicht hätte rühren können es war vor einem Stand mit Heilkräutern getrockneten Käfern und leeren Schildkrötenpanzern zwischen herabbaumelnder Schlangenhaut der Major redete mir drängend ins Ohr und packte dabei meinen rechten Oberarm als sei er mein Vater der mir eine Standpauke halten musste immer ergreift und packt mich etwas
du bist
der ganze Mensch ist die Frauen in diesem Land sind wir denn immer
nichts als eine Handvoll glatter wehrloser zu allem formbarer Teig ich versuchte mich aufzurichten ich wollte dass er meine Veränderung spürte dass er begriff dass ich mich nicht fürchtete um Hilfe zu rufen
der Teig wird jetzt vom Tablett genommen und von Saras geübten Händen zuerst zu einem Pfannkuchen gepresst dann über eine Faust gespannt und mit leicht schlingernden Bewegungen der sich aufspreizenden Finger zu einer dünnen Scheibe ausgeschleudert
deine Schwester
sagte der Major in seinem zivilen Karohemd wann hatte er die Armee verlassen (im Krieg oder hatte ihn der amerikanische Ersatzkönig gefeuert) trüge ich eine Schlangenhaut dann schlüge ich meine Giftzähne in sein Bein