»Er ist eher so etwas wie ein Bruder für mich«, erkläre ich mit leiser Stimme.
Grey nickt, offenbar zufrieden mit meiner Antwort, und entfernt mit seinen langen Fingern geschickt das Papier von dem Blaubeer-Muffin.
Fasziniert sehe ich ihm zu.
»Möchten Sie ein Stück?«, fragt er, und wieder tritt dieses belustigte, geheimnisvolle Lächeln auf seine Lippen.
»Nein, danke.«
»Und der junge Mann gestern im Baumarkt? Der ist auch nicht Ihr Freund?«
»Nein. Paul und ich sind befreundet. Das habe ich Ihnen doch gestern schon gesagt.« Allmählich wird es albern. »Warum interessiert Sie das?«
»Sie wirken nervös in Gegenwart von Männern.«
Junge, jetzt wird’s aber persönlich! Ich bin nur bei dir nervös, Grey.
»Sie schüchtern mich ein.« Ich werde tiefrot, klopfe mir aber innerlich wegen meiner Offenheit auf den Rücken und starre meine Hände an. Ich höre, wie er deutlich vernehmbar Luft holt.
»Soso. Sie sind sehr ehrlich. Bitte heben Sie den Kopf. Ich möchte Ihr Gesicht sehen.«
Ich tue ihm den Gefallen, und er lächelt mir aufmunternd zu.
»So kann ich mir besser vorstellen, was Sie denken, Sie rätselhaftes Wesen.«
Ich – rätselhaft?
»An mir ist nichts Rätselhaftes.«
»Sie sind sehr zurückhaltend«, stellt er fest.
Tatsächlich? Ich, zurückhaltend? Von wegen.
»Nur nicht, wenn Sie rot werden, was ziemlich oft passiert. Ich wünschte, ich wüsste, weswegen.« Er steckt ein kleines Stück Muffin in den Mund und beginnt, bedächtig zu kauen, ohne den Blick von mir zu wenden.
Wie aufs Stichwort werde ich rot. Mist!
»Machen Sie oft so persönliche Bemerkungen?«
»War das persönlich? Bin ich Ihnen zu nahe getreten?« Er klingt erstaunt.
»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Gut.«
»Sie sind ziemlich überheblich.«
Er hebt die Augenbrauen, und wenn ich mich nicht täusche, errötet nun er.
»Ich bin es gewohnt, meinen Willen durchzusetzen, Anastasia«, erklärt er. »In allen Dingen.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Warum haben Sie mir noch nicht angeboten, Sie beim Vornamen zu nennen?« Ich bin überrascht über meine Unverfrorenheit. Wieso ist dieses Gespräch plötzlich so ernst? Woher kommt meine Aufmüpfigkeit? Es ist, als wollte er mich warnen.
»Beim Vornamen nennen mich nur meine Eltern und Geschwister sowie einige enge Freunde. Und das ist gut so.«
Aha. Wieder sagt er nicht, dass ich ihn Christian nennen soll. Er ist tatsächlich ein Kontrollfreak; eine andere Erklärung gibt es nicht. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Kate ihn interviewt hätte. Zwei Kontrollfreaks. Außerdem ist sie beinahe blond – na ja, rotblond –, wie alle Frauen in seinem Büro. Und sie ist schön, erinnert mein Unterbewusstsein mich. Die Vorstellung von Christian und Kate zusammen gefällt mir nicht. Ich nippe an meinem Tee, und Grey nimmt einen weiteren kleinen Bissen von seinem Muffin.
»Sind Sie ein Einzelkind?«, erkundigt er sich.
Hoppla … Ein erneuter Richtungswechsel.
»Ja.«
»Erzählen Sie mir von Ihren Eltern.«
Wieso interessieren ihn die? Wie langweilig!
»Meine Mom lebt mit ihrem neuen Mann Bob in Georgia und mein Stiefvater in Montesano.«
»Und Ihr Vater?«
»Mein Vater ist gestorben, als ich ein Baby war.«
»Tut mir leid.« Ein bekümmerter Ausdruck huscht über sein Gesicht.
»Ich erinnere mich nicht an ihn.«
»Ihre Mutter hat wieder geheiratet?«
Ich schnaube verächtlich. »Ja, könnte man so ausdrücken.«
»Sie lassen sich nicht gern in die Karten schauen, was?« Er reibt nachdenklich sein Kinn.
»Sie auch nicht.«
»Ich erinnere mich an einige sehr indiskrete Interviewfragen.« Ein spöttisches Grinsen zeigt sich auf seinem Gesicht.
Oje, die Schwulen-Frage. Wie peinlich! Schnell fange ich an, nun doch von meiner Mutter zu erzählen, denn daran will ich beim besten Willen nicht erinnert werden.
»Meine Mom ist ein wunderbarer Mensch, eine unverbesserliche Romantikerin. Momentan ist sie mit Ehemann Nummer vier verheiratet.«
Christian hebt erstaunt die Augenbrauen.
»Sie fehlt mir«, fahre ich fort. »Sie hat jetzt Bob. Ich hoffe nur, dass er auf sie achtet und die Scherben aufsammelt, wenn wieder mal eins ihrer verrückten Projekte scheitert.« Bei dem Gedanken lächle ich. Ich war so lange nicht mehr bei meiner Mutter. Christian beobachtet mich intensiv, während er an seinem Kaffee nippt. Ich darf seinen Mund nicht ansehen; das macht mich nervös.
»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Stiefvater?«
»Natürlich. Er ist der einzige Vater, den ich kenne.«
»Wie ist er?«
»Ray? Schweigsam.«
»Das ist alles?«
Ich zucke mit den Achseln. Was erwartet dieser Mann? Meine Lebensgeschichte?
»Schweigsam wie seine Stieftochter«, sagt Grey.
Ich verkneife es mir, die Augen zu verdrehen. »Er mag Fußball, Kegeln und Fliegenfischen und schreinert gern. Er ist Tischler und war in der Armee.«
»Sie haben bei ihm gelebt?«
»Ja. Mom hat Ehemann Nummer drei kennen gelernt, als ich fünfzehn war. Ich bin bei Ray geblieben.«
»Sie wollten nicht bei Ihrer Mutter leben?«, fragt er mit gerunzelter Stirn.
Das geht ihn nun wirklich nichts an.
»Ehemann Nummer drei wohnt in Texas. Ich war in Montesano daheim. Und … Mom war frisch verheiratet.« Ich halte inne, denn meine Mutter spricht nie über Ehemann Nummer drei. Viel kann ich also nicht über ihn sagen. Aber worauf will Grey hinaus? Schließlich geht ihn das echt nichts an. Dieses Spiel können auch zwei spielen.
»Erzählen Sie mir von Ihren Eltern«, bitte ich ihn.
Er zuckt mit den Achseln. »Mein Dad ist Anwalt, meine Mutter Kinderärztin. Sie leben in Seattle.«
Oh, er kommt also aus einer wohlhabenden Familie. Ich stelle mir ein erfolgreiches Paar vor, das drei Kinder adoptiert, von denen eines zu einem attraktiven Mann heranwächst, der die Welt des Big Business im Sturm erobert. Was hat ihn zu dem gemacht, was er ist? Seine Eltern sind bestimmt stolz auf ihn.
»Was machen Ihre Geschwister?«
»Elliot ist im Bauwesen, und meine kleine Schwester lebt in Paris, wo sie von einem berühmten französischen Küchenchef ausgebildet wird.« Sein Blick verrät, dass er nicht gern über seine Familie oder sich selbst spricht.
»Paris soll wunderschön sein«, stelle ich mit leiser Stimme fest. Warum möchte er nicht über seine Familie reden? Weil er adoptiert ist?
»Es ist tatsächlich sehr schön. Waren Sie schon mal dort?«, fragt er.
»Ich habe das Festland der Vereinigten Staaten noch nie verlassen.« Nun wären wir also wieder bei Banalitäten. Was verbirgt er vor mir?
»Würden Sie gerne einmal hinfahren?«
»Nach Paris?«, krächze ich. Wer würde nicht gern nach Paris fahren? »Natürlich. Aber noch lieber würde ich England sehen.«
Er legt den Kopf ein wenig schief und lässt den Zeigefinger über seine Unterlippe gleiten … Oje.
»Warum?«
Ich blinzle. Reiß dich zusammen, Steele. »Weil das die Heimat von Shakespeare, Jane Austen, den Brontë-Schwestern und Thomas Hardy ist. Ich würde gern die Orte besuchen, die diese Schriftsteller inspiriert haben.« Das erinnert mich daran, dass ich eigentlich lernen sollte. Ich sehe auf die Uhr. »Ich muss los, lernen.«
»Für die Abschlussprüfung?«
»Ja. Sie beginnt am Dienstag.«
»Wo ist der Wagen von Miss Kavanagh?«
»Auf dem Hotelparkplatz.«
»Ich bringe Sie hin.«
»Danke für den Tee, Mr. Grey.«
Wieder dieses geheimnisvolle Lächeln.
»Gern geschehen, Anastasia. War mir ein Vergnügen. Kommen Sie.« Er streckt mir die Hand entgegen.
Ich ergreife sie verwirrt und folge ihm aus dem Coffeeshop. Schweigend schlendern wir zum Hotel zurück. Zumindest an der Oberfläche wirkt er ruhig und beherrscht. Ich für meinen Teil versuche verzweifelt zu beurteilen, wie unser kleines Tête-à-Tête beim Kaffee gelaufen ist. Ich habe das Gefühl, ein Bewerbungsgespräch hinter mir zu haben, wofür, weiß ich allerdings nicht.