»Tragen Sie immer Jeans?«, fragt er plötzlich.
»Meistens.«
Er nickt.
Mir schwirrt der Kopf. Was für eine merkwürdige Frage … Das war’s also, und ich hab’s vermasselt, das weiß ich. Vielleicht hat er eine Freundin.
»Haben Sie eine Freundin?«, platzt es aus mir heraus. O Gott, hab ich das gerade laut gesagt?
Er verzieht die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln und sieht mich von oben herab an. »Nein, Anastasia. Eine feste Freundin, das ist nichts für mich«, teilt er mir mit sanfter Stimme mit.
Was bedeutet das wieder? Er ist nicht schwul. Oder vielleicht doch? Wahrscheinlich hat er mich in dem Interview angelogen. Kurz habe ich den Eindruck, dass er mir eine Erklärung, einen Hinweis auf diese rätselhafte Äußerung, liefern will, aber er tut es nicht. Ich sollte jetzt wirklich gehen und außerdem dringend meine Gedanken ordnen. Hastig mache ich einen Schritt vorwärts und stolpere auf die Straße.
»Scheiße, Ana!«, ruft Grey aus und zieht mich mit einem Ruck zurück, gerade als ein Fahrradfahrer vorbeisaust, in falscher Richtung die Einbahnstraße entlang, und mich beinahe erwischt.
Es passiert alles so schnell – in der einen Sekunde stürze ich noch, in der nächsten liege ich schon in seinen Armen, und er drückt mich so fest gegen seine Brust, dass ich seinen Geruch einatmen kann. Er duftet berauschend nach sauberer Wäsche und teurem Duschgel. Gierig sauge ich den Geruch ein.
»Alles in Ordnung?«, flüstert er. Er drückt mich mit einem Arm an sich, während die Finger der anderen Hand zärtlich die Konturen meines Gesichts nachzeichnen. Als sein Daumen über meine Unterlippe streicht, stockt ihm der Atem. Er sieht mir in die Augen, und ich erwidere seinen besorgten, glühenden Blick, bevor sein wohlgeformter Mund meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Zum ersten Mal in meinem einundzwanzigjährigen Leben möchte ich geküsst werden.
VIER
Verdammt, küss mich !, flehe ich ihn stumm an. Ich bin wie gelähmt, vollkommen von ihm gefangen. Gebannt starre ich auf seinen Mund, und Christian Grey sieht mit dunkel verschleiertem Blick auf mich herab. Er atmet schwerer als sonst – mir hat es den Atem ganz verschlagen. Ich liege in deinen Armen. Bitte küss mich. Er schließt die Augen, holt tief Luft und schüttelt kaum merklich den Kopf, als wollte er meine unausgesprochene Frage beantworten. Als er die Augen wieder öffnet, liegt ein Ausdruck stählerner Entschlossenheit darin.
»Anastasia, du solltest dich von mir fernhalten. Ich bin nicht der Richtige für dich«, flüstert er.
Wie bitte? Wo kommt das jetzt wieder her? Das ist doch wohl meine Entscheidung. Meine Gedanken wirbeln aus Enttäuschung über seine Zurückweisung durcheinander.
»Tief durchatmen, Anastasia, tief durchatmen. Ich stelle dich jetzt wieder auf die Füße«, verkündet er und schiebt mich sanft weg.
NEIN !, schreit mein Unterbewusstsein auf, als er sich von mir löst. Plötzlich fühle ich mich sehr einsam. Seine Hände liegen auf meinen Schultern; ich bin eine Armeslänge von ihm entfernt. Er beobachtet aufmerksam meine Reaktion. Und nur ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Ich wollte geküsst werden, habe das verdammt offen gezeigt, und er hat’s nicht getan. Er begehrt mich nicht.
»Habe verstanden«, flüstere ich, als ich meine Stimme wiederfinde, und füge gedemütigt »Danke« hinzu. Wie hatte ich die Situation so gründlich missverstehen können?
»Wofür ?« Er runzelt die Stirn, ohne die Hände von meinen Schultern zu nehmen.
»Dafür, dass du mich gerettet hast«, antworte ich mit leiser Stimme.
»Der Idiot ist in die falsche Richtung gefahren. Gott sei Dank war ich zur Stelle. Ich will mir lieber nicht vorstellen, was hätte passieren können. Möchtest du dich einen Moment im Hotel hinsetzen?« Seine Hände sinken herab, und ich stehe vor ihm da wie ein Volltrottel.
Ich schüttle den Kopf, will nur noch weg. Alle meine vagen, unausgesprochenen Hoffnungen haben sich zerschlagen. Er begehrt mich nicht. Was habe ich mir nur gedacht?, rüge ich mich selbst. Was sollte jemand wie Christian Grey schon von dir wollen?, verspottet mein Unterbewusstsein mich. Ich schlinge die Arme um den Körper und stelle dabei erleichtert fest, dass die Ampel Grün anzeigt. Hastig überquere ich die Straße. Grey folgt mir. Vor dem Hotel wende ich mich ihm kurz zu, ohne ihm in die Augen zu sehen.
»Danke für den Tee und das Fotoshooting«, murmle ich.
»Anastasia … ich …«
Sein besorgter Tonfall lässt mich stutzen. Widerwillig hebe ich den Blick. Seine grauen Augen sind düster, als er sich mit einer Hand durch die Haare fährt. Er wirkt hin- und hergerissen, frustriert. Seine sorgfältig kultivierte Kontrolle ist dahin.
»Was, Christian?«, herrsche ich ihn an, als er schweigt. Ich will nur noch weg, meine Wunden lecken.
»Viel Glück bei den Prüfungen«, wünscht er mir mit leiser Stimme.
Wie bitte? Deshalb blickt er so traurig drein? Ist das der Rausschmeißer? Dass er mir Glück für die Prüfungen wünscht?
»Danke.« Es gelingt mir nicht, meinen Sarkasmus zu kaschieren. »Auf Wiedersehen, Mr. Grey.« Ich drehe mich um, ein wenig überrascht, dass ich nicht stolpere, und haste in Richtung Tiefgarage.
Sobald ich in dem dunklen, kühlen Betonbau mit dem kalten Neonlicht bin, lehne ich mich an die Wand und stütze den Kopf in die Hände. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Unwillkürlich treten mir Tränen in die Augen. Warum heule ich? Ich sinke zu Boden, wütend auf mich selbst, ziehe die Knie an, möchte mich so klein machen wie möglich. Vielleicht wird der Schmerz kleiner, wenn ich kleiner bin. Ich lege den Kopf auf die Knie und schluchze hemmungslos, weine über den Verlust von etwas, das mir nie gehört hat. Wie lächerlich. Und ich trauere um etwas, das von Anfang an aussichtslos war – Hoffnungen, Träume und Erwartungen.
Ich bin noch nie zurückgewiesen worden. Okay … Möglicherweise war ich immer die Letzte, die fürs Basketball- oder Volleyballteam ausgewählt wurde, aber das konnte ich verstehen – laufen und gleichzeitig einen Ball werfen oder damit dribbeln ist einfach nicht meine Sache. Auf dem Sportplatz stelle ich eine ernsthafte Gefahr für meine Mitmenschen dar.
In der Liebe habe ich mich nie so weit aus dem Fenster gelehnt. Das liegt an meiner lebenslangen Unsicherheit – ich bin zu blass, zu dünn, zu linkisch und so weiter und so fort. Also habe ich immer potenzielle Verehrer abgewiesen. In meinem Chemiekurs gab es einen Jungen, der mich mochte, aber mich hat niemals jemand wirklich interessiert – nur dieser verdammte Christian Grey. Vielleicht sollte ich zu Männern wie Paul Clayton oder José Rodriguez netter sein, obwohl von denen bestimmt keiner je meinetwegen heulend in irgendeinem dunklen Winkel gesessen hat.
Hör auf ! Hör auf damit, und zwar sofort!, blafft mein Unterbewusstsein mich an. Fahr heim, setz dich an den Tisch und lerne. Vergiss ihn … Auf der Stelle! Und hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen.
Ich hole tief Luft und stehe auf. Reiß dich zusammen, Steele. Auf dem Weg zu Kates Wagen wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich werde nicht mehr an ihn denken, die Begegnung mit ihm als heilsame Erfahrung verbuchen und mich voll und ganz auf die Prüfungen konzentrieren.
Kate sitzt mit dem Laptop am Esstisch. Ihr Begrüßungslächeln erlischt, als sie mich sieht.
»Ana, was ist los?«
Nein, jetzt bitte nicht die Katherine-Kavanagh-Inquisition. Ich schüttle den Kopf, doch das nützt ungefähr so viel wie bei einer taubstummen Blinden.