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»Du hast geweint.« Sie besitzt ein ungewöhnliches Geschick, das Offensichtliche auszusprechen. »Was hat das Schwein dir angetan?«, knurrt sie, und ihr Gesicht … Hilfe, ich bekomme es mit der Angst zu tun.

»Nichts, Kate.« Genau das ist das Problem. Der Gedanke lässt mich spöttisch lächeln.

»Warum hast du dann geweint? Du weinst sonst nie«, sagt sie in sanfterem Tonfall. Sie steht auf, die grünen Augen voller Sorge, schlingt die Arme um mich und drückt mich. Ich muss irgendetwas sagen, damit sie Ruhe gibt.

»Fast hätte mich ein Radler umgenietet.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Immerhin lenkt sie das fürs Erste von ihm ab.

»Um Gottes willen, Ana – alles in Ordnung? Bist du verletzt ?« Sie tritt einen Schritt zurück, um mich zu begutachten.

»Nein. Christian hat mich gerettet. Aber ich hatte ziemlich wacklige Knie.«

»Das wundert mich nicht. Wie war’s beim Kaffee? Ich weiß, dass du Kaffee hasst.«

»Ich hab Tee getrunken. Es war okay. Letztlich gibt’s nichts Aufregendes zu erzählen. Keine Ahnung, warum er mich gefragt hat.«

»Er mag dich, Ana.«

»Nein, ich werde ihn nie wieder treffen.« Es gelingt mir tatsächlich, sachlich zu klingen.

»Ach?«

Verdammt, sie spitzt die Ohren, also gehe ich in die Küche, damit sie mein Gesicht nicht sieht.

»Ja … Er spielt in einer anderen Liga als ich, Kate«, stelle ich so nüchtern wie möglich fest.

»Wie meinst du das?«

»Kate, das liegt doch auf der Hand.« Sie kommt zur Küchentür, und ich drehe mich zu ihr um.

»Nicht für mich«, erklärt sie. »Okay, er hat mehr Geld als du, aber schließlich ist er reicher als die meisten Leute in Amerika !«

»Kate, er ist …« Ich zucke mit den Achseln.

»Ana! Herrgott – wie oft soll ich dir das noch sagen? Du bist eine tolle Frau«, fällt sie mir ins Wort.

Nein, nicht wieder diese Leier.

»Kate, bitte. Ich muss lernen«, unterbreche ich sie.

Sie runzelt die Stirn. »Möchtest du den Artikel lesen? Er ist fertig. Die Fotos von José sind toll geworden.«

Brauche ich wirklich eine Erinnerung an den attraktiven Christian-ich-will-dich-nicht-Grey?

»Klar.« Ich zaubere ein Lächeln auf mein Gesicht und schlendere zum Laptop. Und da ist er, schwarz auf weiß auf dem Monitor. Seine Miene sagt mir, dass ich seinen Ansprüchen nicht genüge.

Ich tue so, als würde ich den Artikel lesen. Dabei ruht mein Blick die ganze Zeit über auf seinem Gesicht, und ich suche darin nach Erklärungen dafür, warum er nicht der Richtige für mich ist – das waren seine Worte. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er sieht einfach zu unverschämt gut aus. Wir sind Äonen voneinander entfernt und stammen aus zwei verschiedenen Welten. Ich komme mir wie Ikarus vor, der sich an der Sonne die Flügel verbrennt und abstürzt. Jetzt ergeben seine Worte einen Sinn. Er ist nicht der Richtige für mich. Nun fällt es mir leichter, seine Zurückweisung zu akzeptieren. Damit kann ich leben. Endlich begreife ich.

»Sehr gut, Kate«, presse ich hervor. »Ich geh jetzt lernen.« Und denke erst einmal nicht mehr an ihn, nehme ich mir vor, während ich meine Seminarunterlagen aufschlage.

Erst im Bett lasse ich meine Gedanken zu dem seltsamen Morgen zurückwandern. Immer wieder lande ich bei seinem Satz: Eine feste Freundin, das ist nichts für mich. Es ärgert mich, dass ich das nicht früher begriffen habe, bevor ich in seinen Armen lag und ihn mit Blicken anflehte, mich zu küssen. Er hat mir nichts vorgemacht. Er will mich nicht als Freundin. Der Gedanke, dass er sexuell enthaltsam leben könnte, schießt mir durch den Kopf. Vielleicht spart er sich für jemanden auf. Aber nicht für dich. Mein Unterbewusstsein versetzt mir noch diesen letzten Stich, bevor es sich in meinen Träumen austobt.

In der Nacht träume ich von grauen Augen und Milchschaum mit Blattmustern. Ich renne durch dunkle Orte mit unheimlichem Neonlicht und weiß nicht, ob ich auf etwas zulaufe oder davon weg …

Ich lege den Stift weg. Fertig. Ende der Abschlussprüfung. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, vermutlich zum ersten Mal in dieser Woche. Es ist Freitag, und am Abend wollen wir feiern, richtig abfeiern. Vielleicht werde ich mich sogar betrinken! Ich bin noch nie betrunken gewesen. Ich sehe zu Kate hinüber, die wie eine Wilde schreibt, fünf Minuten vor der Abgabe. Das ist es, das Ende meiner Zeit an der Uni. Nie wieder werde ich inmitten von eifrigen, einsamen Studenten sitzen. Innerlich – das ist der einzige Ort, an dem ich das kann – schlage ich vor Freude Rad. Kate hört auf zu schreiben und schaut zu mir herüber, ebenfalls mit einem Honigkuchenpferdgrinsen.

Wir fahren miteinander in ihrem Mercedes zu unserem Apartment zurück, ohne über die Prüfung zu reden. Kate beschäftigt mehr, was sie am Abend in der Kneipe tragen soll. Ich suche in meiner Tasche nach den Schlüsseln.

»Ana, da ist was für dich.« Kate hebt ein Päckchen von den Stufen vor der Tür auf.

Seltsam. Ich habe nichts bei Amazon bestellt. Kate gibt mir das Päckchen und nimmt meinen Schlüssel, um die Tür zu öffnen. Das Paket ist an Miss Anastasia Steele adressiert und trägt keinen Absender. Vielleicht ist es von Mom oder Ray.

»Wahrscheinlich von meinen Eltern.«

»Mach’s auf!«, weist Kate mich an, als sie in die Küche eilt, um zur Feier des Tages den Champagner aus dem Kühlschrank zu holen.

Ich öffne das Päckchen und finde darin eine Lederbox mit drei auf den ersten Blick identischen alten Büchern im Bestzustand, dazu eine schlichte Karte. Auf ihr steht in ordentlicher Schreibschrift:

Warum sagtest du mir nicht,

dass von männlichen Wesen Gefahren drohen?

Warum warntest du mich nicht?

Die vornehmen Damen wissen,

wovor sie sich zu hüten haben,

weil sie Romane lesen,

die ihnen diese Schliche schildern.

Ich erkenne das Zitat aus Tess. Und bin verblüfft über den Zufall, weil ich gerade in der Abschlussprüfung drei Stunden lang über die Romane von Thomas Hardy geschrieben habe. Vielleicht ist es gar kein Zufall, sondern Absicht. Ich inspiziere die Bücher genauer, Tess von den d ’Urbervilles, eine dreibändige Ausgabe. Ich schlage einen der Bände auf. Auf dem Schmutztitel steht in altmodischer Schrift:

LONDON:

JACK R. OSGOOD, MCALVAINE AND CO., 1891

Himmel – Erstausgaben. Die sind bestimmt ein Vermögen wert. In diesem Moment fällt der Groschen, und ich weiß, von wem sie sind. Kate schaut mir über die Schulter und nimmt mir die Karte aus der Hand.

»Erstausgaben«, flüstere ich.

»Nein.« Kate sieht mich ungläubig an. »Grey?«

Ich nicke. »Wer sonst?«

»Was hat die Karte zu bedeuten?«

»Ich glaube, sie ist eine Warnung – er warnt mich ständig. Keine Ahnung, warum. Schließlich versuche ich nicht, ihm die Tür einzutreten.«

»Ich weiß, dass du nicht über ihn reden möchtest, Ana, aber er fährt total auf dich ab. Warnungen hin oder her.«

In den letzten Tagen habe ich keine Gedanken an Christian Grey zugelassen. Okay, seine grauen Augen verfolgen mich im Traum, und mir ist klar, dass es Ewigkeiten dauern wird, das Gefühl seiner Arme um meinen Körper und seinen köstlichen Geruch aus meiner Erinnerung zu verbannen. Aber warum hat er mir die Bücher geschickt? Er hat mir doch gesagt, dass ich nicht die Richtige für ihn bin.

»Hier gibt es eine Erstausgabe von Tess in New York, für vierzehntausend Dollar. Aber deine ist in deutlich besserem Zustand. Sie muss mehr gekostet haben.« Kate konsultiert ihren treuen Freund Google.

»Dieses Zitat – das sagt Tess zu ihrer Mutter, nachdem Alec d’Urberville sie brutal verführt hat.«