»Ich weiß«, brummt Kate. »Was will er dir damit mitteilen?«
»Keine Ahnung, und es interessiert mich auch nicht. Die Bände kann ich nicht annehmen. Ich schicke sie ihm mit einem ähnlich mysteriösen Zitat aus einem wenig bekannten Teil des Buchs zurück.«
»Zum Beispiel die Stelle, wo Angel Clare sagt, sie soll sich verpissen?«, fragt Kate mit todernstem Gesicht.
»Ja, genau.« Ich kichere. Ich liebe Kate; sie ist eine treue Freundin, die mir in jeder Lebenslage beisteht. Ich packe die Bücher wieder ein und lege sie auf den Esstisch.
Kate reicht mir ein Glas Champagner. »Auf das Ende der Prüfungen und unser neues Leben in Seattle.« Sie grinst.
»Auf das Ende der Prüfungen, unser neues Leben in Seattle und tolle Noten.« Wir stoßen an und trinken.
In der Kneipe herrscht Chaos. Sie ist voller Studenten, die bald das Zeugnis bekommen werden und im Moment nur noch feiern wollen. José gesellt sich zu uns. Er macht den Abschluss zwar erst im nächsten Jahr, stimmt uns aber auf unsere neu gewonnene Freiheit ein, indem er einen großen Krug Margarita für alle spendiert. Beim fünften Glas merke ich, dass das nach dem Champagner keine gute Idee war.
»Was hast du jetzt vor, Ana?«, fragt José mich mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen.
»Du weißt doch, Kate und ich ziehen nach Seattle. Kates Eltern haben ihr dort eine Eigentumswohnung gekauft.«
»Dios mío, was die Reichen sich alles leisten können. Aber du kommst zu meiner Vernissage?«
»Klar, José, die würde ich mir doch nicht entgehen lassen.« Ich lächle, und er legt den Arm um meine Taille und zieht mich zu sich heran.
»Es ist mir wichtig, dass du kommst, Ana«, flüstert er mir ins Ohr. »Noch einen Margarita?«
»José Luis Rodriguez – willst du mich betrunken machen? Ich habe den Eindruck, dass deine Strategie aufgeht.« Ich kichere. »Ein Bier wäre mir lieber. Ich hole uns eins.«
»Nachschub, Ana!«, bellt Kate.
Kate hat die Konstitution eines Ochsen. Ihr Arm liegt um Levi, das ist der Englisch-Kommilitone, der normalerweise die Fotos für die Studentenzeitung schießt. Er hat es aufgegeben, die Betrunkenen rund um ihn herum zu fotografieren, und hat nur noch Augen für Kate. Sie trägt ein winziges Mieder, eine knallenge Jeans und High Heels und hat die Haare nach oben gesteckt. Ein paar Locken umrahmen ihr Gesicht. Sie sieht wie immer atemberaubend aus. Ich bin eher der Typ Converse und T-Shirt, habe aber meine vorteilhafteste Jeans an. Ich entwinde mich Josés Griff und stehe vom Tisch auf.
Hoppla. Mir dreht sich alles.
Ich muss mich an der Rückenlehne eines Stuhls festhalten. Drinks auf Tequila-Basis sind heimtückisch.
Ich arbeite mich zur Bar vor und beschließe, auch gleich die Toilette aufzusuchen. Guter Plan, Ana. Ich stolpere durch die Menge. Natürlich steht eine Schlange vor dem Klo, aber immerhin ist es ruhig und kühl auf dem Gang. Ich ziehe mein Handy heraus, um mir die Zeit zu vertreiben. Hm … wen hab ich als Letzten angerufen? José? Davor eine Nummer, die ich nicht kenne. Ach ja, Grey. Ich glaube, das ist seine Nummer. Ich kichere. Keine Ahnung, wie viel Uhr es ist; vielleicht wecke ich ihn. Er soll mir verraten, warum er mir die Bücher und die geheimnisvolle Botschaft geschickt hat. Wenn er will, dass ich ihm fernbleibe, muss er mich auch in Ruhe lassen. Ich verkneife mir ein beschwipstes Grinsen und drücke auf die Schnellwahltaste. Er geht beim zweiten Klingeln ran.
»Anastasia?« Er klingt überrascht.
Offen gestanden, bin ich selbst erstaunt, dass ich ihn anrufe. Plötzlich frage ich mich: Woher weiß er, dass ich es bin?
»Warum hast du mir die Bücher geschickt?«, lalle ich.
»Anastasia, alles in Ordnung? Du klingst seltsam«, fragt er besorgt.
»Nicht ich bin seltsam, sondern du.« Ha – der Alkohol macht mich mutig.
»Anastasia, hast du getrunken?«
»Was kümmert dich das?«
»Ich bin nur … neugierig. Wo bist du?«
»In einer Kneipe.«
»In welcher?« Er klingt verärgert.
»In einer Kneipe in Portland.«
»Und wie kommst du nach Hause?«
»Ich finde schon eine Möglichkeit.« Das Gespräch läuft nicht ganz in die Richtung, die ich mir vorgestellt habe.
»In welcher Kneipe bist du?«
»Warum hast du mir die Bücher geschickt, Christian?«
»Anastasia, wo bist du? Sag es mir, auf der Stelle.«
Sein Tonfall ist … herrisch, ganz der Kontrollfreak. Ich stelle ihn mir als altmodischen Filmregisseur mit Reithose, Gerte und Flüstertüte vor. Bei dem Gedanken muss ich laut lachen.
»Du bist so was von … tyrannisch«, kichere ich.
»Verdammt, Ana, nun sag endlich: Wo steckst du?«
Christian Grey flucht!
Wieder kichere ich. »In Portland … weit weg von Seattle.«
»Wo in Portland?«
»Gute Nacht, Christian.«
»Ana!«
Ich lege auf. Ha! Obwohl er meine Frage mit den Büchern nicht beantwortet hat. Ich runzle die Stirn. Mission nicht erfüllt. Ich habe wirklich einen ganz schönen Schwips – mir dreht sich alles, als ich mich mit der Schlange vorwärtsbewege. Nun, das war ja der Zweck der Übung: Ich wollte mich betrinken, und das ist mir gelungen. So fühlt es sich also an – eine Erfahrung, die ich wahrscheinlich nicht wiederholen möchte. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich starre das Poster an der Rückseite der Toilettentür an, das die Vorteile von Safer Sex preist. O Mann, hab ich gerade Christian Grey angerufen? Scheiße. Mein Handy klingelt. Vor Überraschung stoße ich einen spitzen Schrei aus.
»Hallo«, blöke ich in den Apparat. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
»Ich hole dich ab«, sagt er und legt auf. Nur Christian Grey kann gleichzeitig so ruhig und so bedrohlich klingen.
O Gott. Ich ziehe meine Jeans mit wild pochendem Herzen hoch. Er holt mich ab? O nein. Mir ist schlecht … nein … es geht wieder. Moment. Er will mich bloß verwirren. Ich habe ihm nicht gesagt, wo ich bin. Hier kann er mich nicht finden. Außerdem würde er Stunden brauchen, von Seattle herzukommen, und bis dahin wären wir alle nicht mehr da. Ich wasche mir die Hände und schaue in den Spiegel. Ich habe ein rotes Gesicht, und mein Blick ist verschwommen. Hm … Tequila.
An der Bar warte ich eine gefühlte Ewigkeit auf das Bier, so dass es eine Weile dauert, bis ich zum Tisch zurückkehre.
»Warst ganz schön lange weg«, rügt Kate mich. »Wo hast du dich rumgetrieben?«
»Ich musste vor dem Klo warten.«
José und Levi unterhalten sich angeregt über unser örtliches Baseballteam. José unterbricht die Diskussion gerade lange genug, um uns allen ein Bier einzuschenken. Ich nehme einen großen Schluck.
»Kate, ich glaub, ich muss mal raus, frische Luft schnappen.«
»Ana, du verträgst wirklich nichts.«
»Bin in fünf Minuten wieder da.«
Erneut kämpfe ich mich durch die Menge. Nun wird mir tatsächlich übel, mir dreht sich der Kopf, und ich bin unsicher auf den Beinen. Noch unsicherer als sonst.
Als ich die kühle Abendluft auf dem Parkplatz einatme, merke ich, wie betrunken ich bin. Ich sehe tatsächlich alles doppelt wie in den alten Folgen von Tom und Jerry. Mir ist sterbenselend. Warum nur habe ich so über die Stränge geschlagen?
»Ana.« José gesellt sich zu mir. »Bist du okay?«
»Ich glaube, ich hab zu viel getrunken.« Ich lächle schwach.
»Ich auch«, murmelt er und betrachtet mich mit einem intensiven Blick aus seinen dunklen Augen. »Soll ich dich stützen?«, fragt er und tritt näher, um einen Arm um mich zu legen.
»José, ich hab alles im Griff.« Halbherzig schiebe ich ihn weg.
»Ana, bitte«, flüstert er und zieht mich näher zu sich heran.
»José, was soll das?«
»Du weißt, dass ich dich mag, Ana. Bitte.« Eine Hand wandert auf meinen Rücken und drückt mich an ihn. Mit der anderen berührt er mein Kinn und schiebt meinen Kopf nach hinten. Oje … Er will mich küssen.