»Nein, José, stopp – nein.« Ich versuche, mich ihm zu entwinden, aber er ist stärker als ich und hält meinen Kopf fest.
»Bitte, Ana«, flüstert er noch einmal, dicht an meinen Lippen. Sein Atem riecht süßlich nach Margarita und Bier. Sanft arbeitet er sich mit Küssen von meinem Kinnbogen zu meinem Mundwinkel vor.
Panik! Ich fühle mich machtlos, und dieses Gefühl erstickt mich fast.
»José, nein«, flehe ich ihn an. Ich will nicht. Du bist mein Freund, und ich muss kotzen.
»Ich denke, die Dame hat Nein gesagt«, ertönt eine leise Stimme aus der Dunkelheit. Mist! Christian Grey. Wo kommt der her?
José lässt mich los. »Grey«, stellt er bitter fest.
Ich sehe Christian voller Angst an. Er mustert José mit finsterer Miene und ist stinksauer. Ich würge, krümme mich zusammen und übergebe mich.
»Igitt – Dios mío, Ana!« José springt angewidert zurück.
Grey dagegen schiebt meine Haare vom Mund weg und dirigiert mich sanft zu einem Blumenbeet am Rand des Parkplatzes. Dankbar stelle ich fest, dass es im Halbdunkel liegt.
»Wenn du dich nochmal übergeben musst, dann mach’s hier. Ich halte dich.« Er legt einen Arm um meine Schultern – mit der anderen Hand fasst er meine Haare zu einer Art Pferdeschwanz zusammen, so dass sie mir nicht ins Gesicht fallen.
Und tatsächlich muss ich schon wieder kotzen … wieder … und wieder. O Gott … Wie lange wird das so weitergehen? Selbst als mein Magen leer ist und nichts mehr hochkommt, erschüttert noch trockenes Würgen meinen Körper. Ich schwöre mir insgeheim, nie mehr Alkohol zu trinken. Endlich hört es auf.
Mit wackligen Beinen stütze ich mich an der Ziegeleinfassung des Blumenbeets ab. Sich so heftig zu übergeben ist ganz schön anstrengend. Grey löst die Hände von mir und reicht mir ein frischgewaschenes Stofftaschentuch mit Monogramm: CTG. Ich wusste gar nicht, dass man so etwas noch kaufen kann. Während ich mir den Mund abwische, überlege ich trotz allem, wofür das »T« steht. Es gelingt mir nicht, ihn anzusehen. Ich schäme mich so, finde mich selbst absolut Ekel erregend.
José beobachtet uns vom Eingang der Kneipe aus. Ich lege ächzend den Kopf in meine Hände. Dies ist vermutlich der schlimmste Moment in meinem Leben. Mir dreht sich immer noch alles, als ich versuche, mich an eine noch peinlichere Situation zu erinnern – mir fällt nur Christians Zurückweisung ein. Doch das hier ist viel demütigender. Grey mustert mich mit ausdrucksloser Miene. Ich schaue zu José hinüber, der ziemlich verlegen wirkt und wie ich von Grey eingeschüchtert zu sein scheint. Ich bedenke ihn mit einem wütenden Blick. Mir würden schon ein paar saftige Worte einfallen für meinen sogenannten Freund, aber die kann ich in Gegenwart von Christian Grey, CEO, nicht aussprechen. Ana, wem machst du was vor? Er hat gerade miterlebt, wie du die Blumen vollgekotzt hast. Dass du keine Lady bist, dürfte ihm spätestens jetzt klar sein.
»Äh … wir sehen uns drinnen«, murmelt José. Grey und ich schenken ihm keine Beachtung. Er schleicht zurück ins Gebäude.
Ich bin allein mit Grey. Verdammt, was soll ich ihm sagen? Ich muss mich wohl für den Anruf entschuldigen.
»Tut mir leid«, sage ich kleinlaut und starre das Taschentuch an, an dem ich hektisch herumnestle.
»Was tut dir leid, Anastasia?«
Mist, er erspart mir aber auch gar nichts.
»Hauptsächlich der Anruf. Und das Kotzen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.« Ich spüre, wie ich rot werde. Erde, tu dich auf.
»Das haben wir alle schon mal erlebt, vielleicht nicht ganz so drastisch wie du«, erwidert er trocken. »Man muss seine Grenzen kennen, Anastasia. Ich bin ja dafür, Grenzen auszuloten, aber das geht nun wirklich zu weit. Machst du das öfter?«
Mir brummt der Kopf von dem vielen Alkohol. Was zur Hölle geht ihn das an? Ich habe ihn nicht hergebeten. Er klingt wie jemand, der ein unartiges Kind zurechtweist. Am liebsten würde ich ihm antworten, dass es ganz allein meine Entscheidung wäre, mich jeden Abend zu betrinken, aber dazu fehlt mir, nachdem ich mich vor ihm übergeben habe, der Mut. Was will er noch hier?
»Nein«, sage ich zerknirscht. »Ich bin noch nie zuvor betrunken gewesen, und im Moment habe ich auch nicht das Bedürfnis, die Erfahrung zu wiederholen.«
Ich begreife einfach nicht, warum er hier ist. Mir wird schwummerig. Er merkt es, packt mich, bevor ich hinfalle, und drückt mich an seine Brust wie ein Kind.
»Ich bringe dich heim.«
»Ich muss Kate Bescheid sagen.« Das zweite Mal in seinen Armen …
»Das kann mein Bruder machen.«
»Wie bitte?«
»Mein Bruder Elliot spricht gerade mit Miss Kavanagh.«
»Ach.«
»Er war bei mir, als du angerufen hast.«
»In Seattle?«, frage ich verwirrt.
»Nein, im Heathman.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe den Anruf zurückverfolgt, Anastasia.«
Natürlich. Aber wie ist das möglich? Ist das legal? Stalker, flüstert mein Unterbewusstsein mir durch eine Wolke aus Tequila zu. Doch weil er es ist, stört es mich nicht.
»Hast du eine Jacke oder eine Handtasche?«
»Ja, beides. Christian, bitte, ich muss Kate Bescheid sagen, sonst macht sie sich Sorgen.«
Sein Mund wird hart, und er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wenn’s sein muss.«
Er nimmt meine Hand und führt mich zurück in die Kneipe. Ich fühle mich schwach und betrunken, bin erschöpft, verlegen und auf merkwürdige Weise total aufgedreht. Er hält meine Hand fest – was für verwirrende Gefühle! Ich werde mindestens eine Woche brauchen, um die alle zu verdauen.
Kate sitzt nicht mehr an unserem Tisch, José ist verschwunden, und Levi wirkt verloren und einsam.
»Wo ist Kate?«, brülle ich ihm zu, um den Lärm zu übertönen. Mein Kopf beginnt, im Rhythmus mit dem wummernden Bass der Musik zu dröhnen.
»Tanzen!«, brüllt Levi zurück, und ich merke, dass er wütend ist. Er beäugt Christian misstrauisch.
Ich mühe mich ab, in meine schwarze Jacke zu schlüpfen, und schnappe mir meine kleine Tasche. Sobald ich mit Kate gesprochen habe, können wir gehen.
Ich berühre Christians Arm und schreie ihm ins Ohr: »Sie ist auf der Tanzfläche!« Dabei berührt meine Nase seine Haare, und ich rieche seinen sauberen, frischen Duft. All die verbotenen, unbekannten Gefühle, die ich zu leugnen versucht habe, drängen an die Oberfläche. Ich werde rot, und tief in mir ziehen sich die Muskeln auf höchst angenehme Weise zusammen.
Er verdreht die Augen und dirigiert mich zur Bar. Er wird sofort bedient; Mr. Kontrollfreak Grey muss natürlich nicht warten. Fliegt ihm alles so zu? Ich kann nicht hören, was er bestellt. Wenig später reicht er mir ein sehr großes Glas eisgekühltes Wasser.
»Trink«, befiehlt er mir mit lauter Stimme.
Die Lichter tanzen im Takt der Musik und werfen bunte Reflexe und Schatten auf Theke und Gäste. Grey ist abwechselnd grün, blau, weiß und dämonisch rot. Er beobachtet mich mit Argusaugen. Ich nehme zögernd einen Schluck.
»Runter damit!«, brüllt er.
Gott, ist der Mann herrisch! Grey fährt sich mit der Hand durch die widerspenstigen Haare. Er wirkt frustriert und wütend. Was hat er jetzt wieder für ein Problem? Abgesehen von dem albernen betrunkenen Mädchen, das ihn mitten in der Nacht anruft, damit er denkt, er müsste es retten. Am Ende musste er das tatsächlich, und zwar vor dem zudringlichen Freund. Und dann sieht er zu, wie es sich vor ihm auskotzt. O Ana … wie willst du das jemals verdauen? Mein Unterbewusstsein gibt missbilligende Geräusche von sich und bedenkt mich über die Lesebrille hinweg mit finsteren Blicken.
Ich schwanke ein wenig. Grey legt mir stützend die Hand auf die Schulter. Ich tue, was er sagt, trinke das Glas leer, woraufhin er es auf der Theke abstellt. Wie durch einen Nebel hindurch registriere ich, was er anhat: ein weit geschnittenes, weißes Leinenhemd, eng anliegende Jeans, schwarze Converse-Sneakers und ein dunkles Jackett mit Nadelstreifen. Das Hemd steht am Kragen offen, darunter entdecke ich ein paar Haare.