SECHS
Christian öffnet die Beifahrertür des schwarzen Audi SUV, und ich steige ein. Was für ein Riesengefährt! Er hat bis jetzt kein Wort über die Sache im Aufzug verloren. Soll ich damit anfangen? Sollen wir darüber reden oder so tun, als wäre nichts geschehen? Fast erscheint er mir nicht real, mein erster hemmungsloser Kuss. Als die Minuten verstreichen, verbanne ich ihn ins Reich der Mythen, der Artussage, des untergegangenen Atlantis. Er ist nie passiert. Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet. Nein. Ich berühre meine Lippen, die von seinem Kuss geschwollen sind. Er ist definitiv passiert. Der Kuss hat mich verändert. Ich will diesen Mann, und er will mich.
Ich sehe ihn an. Christian wirkt wie üblich höflich und ein wenig distanziert.
Mann, wie verwirrend.
Er lässt den Motor an, fährt rückwärts aus dem Parkplatz und schaltet die Stereoanlage ein. Sogleich wird das Innere des Wagens vom engelsgleichen Gesang zweier Frauen erfüllt. Puh! In meinem konfusen Zustand berührt mich diese Musik derart, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Christian lenkt den Audi lässig und selbstbewusst auf die Southwest Park Avenue.
»Was hören wir da gerade?«
»Das ›Blumenduett‹ von Delibes, aus der Oper Lakmé. Gefällt es dir?«
»Es ist wunderschön.«
»Ja, nicht wahr?« Er grinst mich an. Einen kurzen Moment wirkt er so jung, wie er tatsächlich ist, unbekümmert und atemberaubend schön. Ist Musik der Schlüssel zu seinem Wesen? Ich lausche den verführerischen Stimmen.
»Kann ich das nochmal hören?«
»Natürlich.« Christian betätigt einen Knopf, und schon umschmeichelt mich der Gesang erneut.
»Magst du klassische Musik?«, frage ich, weil ich mir dadurch einen seltenen Blick in sein Wesen erhoffe.
»Mein Geschmack ist breit gefächert, Anastasia. Ich mag alles von Thomas Tallis bis zu den Kings of Leon. Das hängt von meiner Stimmung ab. Und du?«
»Mir geht es ähnlich. Aber Thomas Tallis sagt mir nichts.«
Er sieht kurz zu mir herüber. »Irgendwann spiele ich dir was von ihm vor. Er war ein britischer Komponist des sechzehnten Jahrhunderts, Tudorzeit, hat hauptsächlich Motetten geschrieben. Ich weiß, das klingt esoterisch, doch seine Musik ist magisch.«
Er drückt auf einen Knopf, und die Kings of Leon erklingen. Hm … das kenne ich. Sex on Fire. Wie passend! Doch dann wird die Musik von Handyklingeln übertönt. Christian betätigt einen Schalter am Lenkrad.
»Grey«, bellt er in den Lautsprecher. Er kann wirklich sehr schroff sein.
»Mr. Grey, Welch hier. Ich habe die Information, die Sie wollten«, höre ich eine raue Stimme sagen.
»Gut. Mailen Sie sie mir. Sonst noch was?«
»Nein, Sir.«
Christian beendet das Gespräch, und wieder ertönt die Musik. Kein Auf Wiedersehen oder Dankeschön. Gott sei Dank habe ich nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, für ihn zu arbeiten. Schon bei der Vorstellung überläuft mich ein Schauder. Sein Kontrollbedürfnis ist übermächtig, und seine Untergebenen behandelt er schrecklich kühl. Erneut wird die Musik durch das Klingeln des Handys unterbrochen.
»Grey.«
»Man hat Ihnen die Verschwiegenheitsvereinbarung gemailt, Mr. Grey.« Eine Frauenstimme.
»Gut. Das wäre alles, Andrea.«
»Auf Wiederhören, Sir.«
Christian betätigt abermals den Knopf am Lenkrad. Die Musik erklingt sehr kurz, bevor das Handy ein weiteres Mal klingelt. Gütiger Himmel, sieht sein Leben so aus – permanent nervende Anrufe?
»Grey«, knurrt er ins Telefon.
»Hallo, Christian. Na, hattest du eine heiße Nacht?«
»Hallo, Elliot. Das Telefon ist laut geschaltet. Ich bin nicht allein im Wagen.« Christian seufzt.
»Wer ist bei dir?«
Christian verdreht die Augen. »Anastasia Steele.«
»Hi, Ana!«
Ana?
»Hallo, Elliot.«
»Hab schon eine Menge von dir gehört«, erklärt Elliot mit kehliger Stimme.
»Glaub kein Wort von dem, was Kate sagt.«
Elliot lacht.
»Ich bringe Anastasia gerade nach Hause. Soll ich dich dann mitnehmen?«
»Gern.« »Bis gleich.« Christian beendet das Gespräch, und wieder erklingt die Musik.
»Warum nennst du mich die ganze Zeit Anastasia?«
»Weil du so heißt.«
»Mir ist Ana lieber.«
»Ach, tatsächlich?«
Wir sind fast vor meinem Haus. Das ist schnell gegangen. »Anastasia«, wiederholt er. Ich mache ein finsteres Gesicht, das er ignoriert. »Was vorhin im Aufzug passiert ist, wird nicht mehr geschehen, jedenfalls nicht ohne vorherige Absprache.«
Erst vor dem Apartment fällt mir auf, dass er mich nicht gefragt hat, wo ich wohne – trotzdem weiß er es. Nun, er hat die Bücher geschickt; natürlich weiß er, wo ich wohne. Das ist so bei geschickten Stalkern, die Anrufe zurückverfolgen und einen Helikopter besitzen.
Warum will er mich nicht mehr küssen? Ich begreife es nicht und mache einen Schmollmund. Der Familienname Kryptisch würde besser zu ihm passen als Grey. Er steigt aus und eilt auf meine Seite, um mir die Tür zu öffnen – wie immer ganz der Gentleman, abgesehen von seltenen, kostbaren Momenten in Aufzügen. Ich erröte bei der Erinnerung an seinen Kuss, und nachträglich wird mir bewusst, dass ich ihn nicht berühren konnte. Gern hätte ich ihm mit den Fingern die widerspenstigen Haare noch mehr zerzaust, aber ich war nicht in der Lage, meine Hände zu bewegen. Im Nachhinein frustriert mich das.
»Mir hat das im Aufzug gefallen«, sage ich beim Aussteigen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein tiefes Luftholen höre, während ich die Stufen zur Eingangstür hinaufgehe.
Kate und Elliot sitzen an unserem Esstisch. Die superteuren Erstausgaben sind Gott sei Dank verschwunden. Auf Kates Gesicht liegt ein für sie höchst untypisches Grinsen, und sie sieht auf sexy Art müde aus. Christian folgt mir ins Wohnzimmer. Trotz ihres Grinsens, das von einer tollen Nacht zeugt, beäugt sie ihn argwöhnisch.
»Hi, Ana.« Sie springt auf, um mich zu umarmen, und tritt dann einen Schritt zurück, damit sie mich besser begutachten kann.
»Guten Morgen, Christian«, sagt sie anschließend ein wenig feindselig.
»Miss Kavanagh«, erwidert er in seiner steifen, förmlichen Art.
»Christian, sie heißt Kate«, brummt Elliot.
»Kate.« Christian bedenkt sie mit einem höflichen Nicken und Elliot mit einem wütenden Blick.
Elliot steht schmunzelnd auf, um mich ebenfalls mit einer Umarmung zu begrüßen. »Hi, Ana.« Seine blauen Augen strahlen.
Ich mag ihn sofort. Offenbar ist er anders als Christian, aber sie sind ja auch nur Adoptivbrüder.
»Hallo, Elliot.« Als ich sein Lächeln erwidere, merke ich, dass ich auf meiner Lippe kaue.
»Elliot, wir sollten gehen«, sagt Christian.
»Ja.« Elliot wendet sich Kate zu, nimmt sie in die Arme und küsst sie lange und intensiv.
Gott … sucht euch irgendwo ein Zimmer. Ich starre verlegen auf meine Füße. Als ich den Blick hebe, merke ich, dass Christian mich genauestens beobachtet. Meine Augen verengen sich. Warum kannst du mich nicht so küssen? Ohne seine Lippen von den ihren zu lösen, reißt Elliot Kate von den Beinen und schultert sie, so dass ihre Haare den Boden berühren.
»Ciao, ciao, Baby.«
Kate schmilzt dahin. So habe ich sie noch nie erlebt – mir fallen Worte wie »anmutig« oder »zahm« ein. Kate – und zahm? Junge, Junge, Elliot muss wirklich was auf dem Kasten haben. Christian verdreht die Augen und sieht mich mit unergründlicher Miene an. Er streicht eine Haarsträhne, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hat, hinter mein Ohr. Ich halte den Atem an, als ich seine Berührung spüre, und drücke meinen Kopf leicht gegen seine Hand. Sein Blick wird weicher, und er lässt seinen Daumen über meine Unterlippe gleiten. Das Blut pocht in meinen Adern. Leider endet die Liebkosung viel zu schnell.
»Ciao, ciao, Baby«, murmelt er, und ich muss lachen, weil das so gar nicht zu ihm passt. Obwohl ich weiß, dass es ironisch gemeint ist, bringt es tief in mir etwas zum Klingen.