Talbot nickte. »Geschäfte unmittelbar mit dem Hai abzuwickeln ist teurer, als dieselben Auskünfte von seinen Männern zu kaufen. Andererseits geht es schneller und ist umfassender. Es ist ja nicht mein Gold, das ich ausgebe, und der Vogt legt mehr Wert auf die Güte des Ergebnisses als auf den Preis.«
»Ich habe gehört, dass der Vogt mittlerweile an einen Stuhl gefesselt ist«, platzte Sham spontan heraus. Sie mochte den Vogt trotz seiner Abstammung und hoffte heimlich, das Gerücht sei falsch.
Doch Talbot nickte erneut. Ein Anflug von Besorgnis vertrieb dabei den vergnüglichen Ausdruck in seinem Gesicht. »Seit dem Kampf gegen Lord Hirkin. Er sagt, er habe eine alte Verletzung, die zunehmend schlimmer wird. Wochenlang geht es ihm unverändert gut, bis er einen Anfall bekommt, der ihn regelrecht verkrüppelt. Nach einigen Tagen lässt es zwar wieder nach, doch es wird nie mehr so gut wie zuvor.«
Als Tochter eines Soldaten wusste Shamera, was es bedeutete, an einen Stuhl gefesselt zu sein. Hauptsächlich benutzte man sie für die Alten, die Schwierigkeiten damit hatten, sich zu bewegen, aber gelegentlich hatte ein Kämpfer das Pech, mit einer Rückenverletzung zu überleben. Einem der Männer ihres Vaters war es so ergangen.
Er war im Kreuz von einer Keule getroffen worden, die ihm das Rückgrat zertrümmerte. Einen Sommer lang hatte er in seinem Stuhl gesessen und Sham Geschichten erzählt; hin und wieder rief sie sich selbst nach all den Jahren noch jene sanfte Tenorstimme und die Erzählungen über große Helden ins Gedächtnis.
Sie hatte belauscht, wie der Apotheker ihrem Vater erklärt hatte, dass es das Fließen der Lebenskräfte eines Mannes beeinträchtigte, wenn er die Beine nicht mehr bewegen konnte. Jeder, der längere Zeit an den Stuhl gefesselt blieb, steuerte frühzeitig dem Scheiterhaufen entgegen. Manche starben schnell, für andere jedoch wurde es ein langsamer und unerfreulicher Tod. Durch die Herbstwinde hatte der Soldat ihres Vaters eine Entzündung bekommen, gegen die zu kämpfen er zu schwach und mutlos war, sodass er schließlich daran verstarb.
Sie erinnerte sich an die geschmeidige Stärke des Vogts, als er das blaue Schwert geschwungen hatte, und sie gelangte zu dem Schluss, dass ihr der Gedanke an ihn als Krüppel in einem Stuhl nicht gefiel – das kam der mutwilligen Zerstörung eines wunderschönen Kunstwerks gleich.
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte sie.
»Seine Gesundheit ist einer der Gründe, warum wir dich brauchen, Mädchen«, gab Talbot schroff zurück.
»Du musst mir schon mehr darüber erzählen, was genau du von mir willst, bevor ich entscheide, ob ich die Arbeit annehme.«
Talbot nickte. »Das will ich gern tun. Wir haben hier in Landsend einen Mörder.«
Nüchtern erwiderte Sham: »Ich kenne mehrere Dutzend – möchtest du einen davon kennenlernen?« Sie verriet ihre schlagartige Aufmerksamkeit nicht durch das geringste Zucken.
»Ah, aber ich glaube, du kennst keinen wie diesen«, entgegnete Talbot und bewegte sich näher auf sie zu. »Die ersten Opfer schienen willkürlich zu sein – ein Grillspießjunge in einer Taverne in der Nähe des neuen Hafens, ein Böttcher, der Sandmann. Soweit ich es mir anhand von Hirkins Büchern zusammenreimen kann, begann es vor sieben oder acht Monaten.«
»Der Sandmann?«, hakte Sham überrascht nach. »Ich habe gehört, er hätte einige Leute verärgert, als er einen Auftrag annahm, den die Meuchlergilde nicht genehmigt hatte.«
»Das mag schon sein, aber ich glaube nicht, dass die Gilde etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Er starb ohne ein Seufzen oder einen Mucks, während seine Mätresse neben ihm schlief. Als sie aufwachte, fand sie den Mann in Streifen geschnitten vor.« Talbot wartete.
»Wie beim Alten Mann«, sagte Sham, da Talbot selbst den Schluss bereits gezogen hatte.
»Ich dachte mir, dass dich das interessieren würde«, meinte Talbot zufrieden. »Die letzten fünf Opfer waren dann Adelige, und nun wird der Hof allmählich unruhig. Der Vogt glaubt, der Täter könnte selbst ein Adeliger sein, und er will, dass jemand die Häuser nach Beweisen durchsucht. Stünde es besser um seine Gesundheit, würde er die Untersuchung selbst durchführen; so hat er stattdessen mich losgeschickt, um einen Dieb zu finden, der die Aufgabe erledigt, ohne die Adeligen dabei völlig auszunehmen. Jemanden, der sich bei ihnen einschleichen könnte.« Talbot begegnete Shams Blick. »Du sollst ruhig wissen, dass ich die Anforderungen ergänzt habe, denn ich selbst glaube nicht, dass unser Mörder ein Adeliger ist – obwohl ich sehr wohl denke, dass er sich unter Adeligen zu Hause fühlt. Und wir haben eine Quelle« – auf das Wort ›Quelle‹ legte er eine merkwürdige Betonung –, »die behauptet, der Mörder halte sich zumindest manchmal in der Feste auf und sei nicht menschlich. Da der Vogt aus dem Osten stammt, hat er den letzten Teil als Unfug abgetan, aber vom ersten Teil ist er beinahe überzeugt.«
»Was glaubst du, wer der Mörder ist?«, wollte Sham wissen und senkte den Blick, damit er ihr nicht die Gedanken an den Augen ablesen konnte.
»Ich glaube, es ist ein Dämon«, sagte er.
Sham schaute auf und wiederholte leise: »Ein Dämon.«
»Aye«, bestätigte er und nickte langsam. »Ein Dämon.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Sham lächelnd, als hätte sie noch nie von dem Dämon namens Chen Laut gehört.
»Seemannsaberglaube«, antwortete er offenherzig. »Ich kenne die Geschichten, und die Morde passen dazu. Der letzte Adelige wurde in seinem versperrten Zimmer getötet. Die Tür musste mit einer Axt eingeschlagen werden, um zu ihm zu gelangen, und es waren keinerlei Geheimgänge zu finden. Wenn es ein Mensch ist, brauchst du nur die Häuser zu durchsuchen. Wenn nicht, hätte ich persönlich lieber eine Magierin, die sich der Kreatur annimmt.«
»Du überschätzt meine Fähigkeiten«, merkte sie an. »Offiziell bin ich noch nicht aus der Lehre entlassen worden.«
»Maur«, erwiderte der Seemann leise, »war ein Mann, der überall einen Eindruck hinterlassen hat, wo er hinging. Von Zeit zu Zeit kam er auf das Schiff, auf dem ich diente – er hat dafür gesorgt, dass ich lesen und schreiben gelernt habe. Nein, ich hätte lieber seinen Lehrling als irgendeinen Magiermeister. Außerdem hat mir der Hai versichert, dass du mindestens so fähig wie jeder andere Zauberer bist, der noch hier in Landsend übrig ist.«
»Ah.« Sham fragte sich, wie viele andere Menschen noch wussten, wer der Alte Mann einst gewesen war.
»Du bist dem Vogt für deine Rettung etwas schuldig«, fügte Talbot leise hinzu. »Auch wenn du Magierin bist, das waren neulich zu viele Gegner, um sie alleine zu besiegen. Der Vogt zahlt gut, und falls das nicht genügt, kommt außerdem noch die Befriedigung hinzu, den Mörder deines Meisters zu finden.«
Sham zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern, als spiele das keine große Rolle für sie – man durfte sich nie anmerken lassen, wie bereitwillig man manche Köder schluckte. »Vielleicht hast du recht. Auf jeden Fall bin ich dir etwas schuldig. Wann soll ich in die Feste kommen?«
Der ehemalige Seemann blickte mit zusammengekniffenen Augen zur frühmorgendlichen Sonne empor, die langsam aufstieg und den Himmel über den Dächern von Fegfeuer erhellte. »Ich glaube, seine Worte lauteten ›sobald du sie findest‹. Daher denke ich, jetzt gleich wäre ein guter Zeitpunkt.«
Die Cybeller hatten eine Vorliebe für Farben, die Südwäldleraugen fast schon als beleidigend empfanden. Die Bediensteten der Feste, Ostländler und Südwäldler gleichermaßen, trugen Edelsteinschattierungen, die von Saphir und Rubin über Topas bis hin zu Smaragd und Amethyst reichten. Talbot nahm sich dagegen in seinen Braun- und Grautönen geradezu schäbig aus.
Einer der Bediensteten mit den ausdruckslosen Mienen kicherte hinter ihnen, als Sham dem neuen Sicherheitsleiter durch die Eingangshalle folgte. Ohne innezuhalten, rieb sie auffällig an einem der kleineren Flecken auf der Vorderseite ihres Lederwamses. Dann spuckte sie laut darauf und rieb weiter, während sie nach einer besseren Möglichkeit zur Vergeltung Ausschau hielt. Die sorgsam platzierten, juwelenbesetzten Ziergegenstände, die jede verfügbare Fläche übersäten, erregten ihre Aufmerksamkeit.