Sie stand in einem kleinen Wohnzimmer, in dem es nach Leinsamenöl und Wachs roch. Dank der geschlossenen Läden beherrschten Schatten den Raum. Ohne sich zu rühren, denn sie fürchtete, sie könnte etwas umstoßen, bezog sie Magie von einem Ort, der nicht ganz zu dieser Welt gehörte. Sie schob eine vertraute Barriere beiseite und löste nur ein kleines Stück, gerade genug für ihre Zwecke. Sham hielt es fest und brachte es in die gewünschte Form, benutzte Gesten und Worte, um es geschickt zu bearbeiten. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte sie die Gewänder eines Magiermeisters getragen.
Magie hatte sich für Sham von jeher so angefühlt, als hielte sie eine unglaubliche und eiskalte Substanz, die ihre Hände nichtsdestotrotz wärmte. Mit einer Geste, als schiebe sie etwas von sich, schleuderte sie die Magie fort und beobachtete ihren weiß glühenden Schein mit der Gabe eines Magiers. Falls sich doch jemand im Haus befand, würde sie es in Kürze erfahren. Als nichts geschah, nachdem sie bis zwanzig gezählt hatte, war sie überzeugt davon, dass sie tatsächlich allein war.
Das von ihr beschworene Magierlicht war matt, dennoch erhellte es ihren Weg durch die karg eingerichteten Gänge ausreichend. Sie wanderte durch das Gebäude, bis sie den Raum fand, den ihr der Junge als das Arbeitszimmer des Hausherrn beschrieben hatte.
Sham zog ein Goldstück aus einer ihrer Taschen hervor, murmelte der Münze etwas zu und warf sie dann hoch. Sie wirbelte durch die Luft und landete klirrend auf dem harten Boden. Die Münze drehte sich auf der Kante, bevor sie zum Liegen kam – hoffentlich direkt auf dem in den Boden eingelassenen Tresor, in dem der Herr des Hauses sein Gold verwahrte.
Sham zog ihr Magierlicht tiefer und untersuchte das Parkett eingehend. Im kühlen Lichtschein konnte sie ausmachen, dass eine Gruppe von Bodenplatten kaum merklich höher als der Rest aufragte. Zu offensichtlich, schalt sie den abwesenden Hausherrn in Gedanken. Überzeugt davon, den Tresor gefunden zu haben, begann sie, nach dem Hebel zu suchen, mit dem er sich öffnen ließ.
Unter dem Mahagonischreibtisch ragte eine der Holzplatten deutlich höher auf als die anderen ringsum. Sham versuchte draufzudrücken. Damit erzielte sie keine Wirkung, doch als sie sie anhob, gelang es ihr mühelos, die Platte hochzuziehen. Dabei ertönte ein Klicken, dem ein ganz ähnliches Geräusch vom Tresor her folgte.
Sham hob die lose Holzplatte an und spähte darunter. In der kleinen Vertiefung befanden sich mehrere Lederbeutel, die eine ordentliche Reihe neben einem Stapel Schmuckkästchen bildeten. Sie nahm einen der Säcke heraus und stellte fest, dass er voller Goldmünzen war. Mit einem zufriedenen Lächeln zählte sie dreiundzwanzig in einen Beutel, den sie unter ihrer Seidentunika trug. Als sie damit fertig war, stellte sie den Sack zu seinen Gefährten zurück und ordnete sie so an, dass sie genau wie vor Shams Zugriff aussahen.
Die Schmuckkästchen zu durchstöbern kam ihr nicht mal in den Sinn. Was nicht daran lag, dass sie etwas gegen Diebstahl hatte – immerhin verdiente sie sich damit ihren Lebensunterhalt. Aber in dieser Nacht trachtete sie nach Vergeltung, und dabei gab es keinen Platz für gewöhnlichen Raub. Nachdem sie den Tresor geschlossen hatte, setzte sie die Bodenplatte unter dem Schreibtisch wieder ein.
Damit verließ sie das Arbeitszimmer, um ihre Erkundung des Hauses fortzusetzen. Das Geld stellte nur ein Drittel der Gründe dar, weshalb sie in dieser Nacht hergekommen war.
Für ihre den Südwald gewohnten Augen sah das Haus eigenartig aus. Sie fand die Räume, die durch Vorhänge anstatt Türen abgeteilt waren, zu groß und schwierig zu heizen. Die Böden präsentierten sich kahl und poliert und nicht mit Binsen bestreut. Kein Wunder, dass die Bewohner ihre Häuser verließen, um sich in Dampfbädern zu aalen – verwunschen oder nicht. Die frostige Luft kroch durch dieses Gebäude, als handle es sich um eine jahrhundertealte, zugige Burg und nicht um ein neu errichtetes Herrenhaus.
Sie erklomm die hintere Treppe zum dritten Geschoss, wo sie eine Kinderstube, die Unterkünfte der Bediensteten und einen Lagerraum vorfand. Sham kehrte in den ersten Stock zurück und setzte ihre Suche fort. Dieser besondere Adelige sammelte Instrumente aller Art, und sie hatte von den Flüsterern gehört, dass er unlängst eines erworben hatte, das mehr war, als es zu sein schien.
Schließlich entdeckte sie neben der Haupttreppe das Musikzimmer, einen kleinen Raum, den eine große Harfe beherrschte, die in der Mitte stand. Mehrere andere sperrige Instrumente befanden sich auf Ständern, die kleineren hingegen verteilten sich über verschiedene Tische und Regale entlang der Wände.
Die Flöte, nach der sie suchte, ruhte unscheinbar auf einer Ablage neben einer Schoßharfe, als wäre sie nicht mehr als das kunstvoll gefertigte Instrument mit den acht Löchern, das sie zu sein schien. Das helle, geschnitzte Holz war mit kleinen Splittern eines blauen Halbedelsteins besetzt und sah so uralt aus, wie es das auch in Wirklichkeit war. Vielleicht war sie ein wenig abgenutzter, als Sham die Flöte in Erinnerung hatte. Mehrere Stückchen des Steins fehlten, und über eine Seite zog sich ein tiefer Kratzer. Dennoch wusste sie, dass es sich um die Flöte des Alten Mannes handelte: Die ihr innewohnende Magie war unverkennbar.
Sham schüttelte den Kopf darüber, wie ahnungslos man sein musste, um einen solchen Gegenstand in Reichweite eines jeden Menschen zu verwahren, der daran vorbeischlenderte. Es bildete einen Bestandteil der Magie der Flöte, dass sie all jene anzog, die in der Lage waren, ihre Macht zu nutzen. Dass dieses Haus noch stand, bewies, dass die Menschen aus dem Osten keine Magie in ihren Seelen hatten. Aus einer Eingebung heraus hob sie die Flöte an die Lippen und blies einmal kurz hinein. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als die misstönende Note gespenstisch durch das Haus hallte.
Sham fragte sich, ob der Adelige schon versucht hatte, auf dem Instrument zu spielen, und enttäuscht vom platten, leblosen Klang gewesen war. Sie blies erneut hinein und ließ den einzelnen Ton das leere Haus erfüllen. Die von der Flöte heraufbeschworene Magie brachte ihre Fingerspitzen zum Kribbeln, und der Ton schwoll an, bis er klar und satt klang.
Lächelnd löste sie das Instrument von den Lippen und hielt die Magie für einen Augenblick fest. Dann gab Sham sie ungeformt frei. Sie spürte, wie kurzzeitige Wärme ihr Gesicht streifte, bevor sie von dem kalten Raum verschluckt wurde.
Einmal hatte sie gehört, wie der Alte Mann mit wahrem Können auf der Flöte gespielt hatte. Allerdings hatte er sie selten hervorgeholt, da er zum gewöhnlichen Üben alltäglichere Instrumente bevorzugte. Bis sie vom Verkauf der Flöte erfuhr, hatte sie geglaubt, sie sei zusammen mit dem Rest seiner Habseligkeiten verbrannt, als die Cybeller die Feste eingenommen hatten.
Ehrfürchtig schob sie das Instrument in eine verborgene Tasche an der Innenseite des Ärmels ihres Unterhemds und vergewisserte sich, dass sich die Ausbuchtung von außen betrachtet nicht zu offensichtlich abzeichnete. Eine Aufgabe verblieb noch.
Die Huldstätten für Altis – die es im Haus jedes Menschen aus dem Osten gab – wurden für gewöhnlich in der Nähe des Eingangs errichtet, wo die allsehenden Augen die Bewohner beschützen konnten. Sham verzichtete darauf, den Rest des ersten Stockwerks zu erkunden, und huschte die Treppe hinab.
Den Altar fand sie noch schneller als zuvor das Musikzimmer. Am Fuß der Stufen befanden sich goldene Samtvorhänge. Die Bewegung des schweren Stoffes entfesselte eine Staubwolke, die sie in dem Heiligtum des Gottes der Menschen des Ostens zum Husten brachte.
Der Altarraum maß nicht mehr als ein großer Schrank und wurde von einem muffigen Geruch beherrscht. Ungeachtet der offensichtlichen Anzeichen für eine allenfalls spärliche Verwendung des Schreins wog dieser seinen Mangel an Größe durch schieren Pomp mehr als auf.