»Guten Morgen, Lady Shamera. Mein Name ist Jenli, und mein Onkel Dickon hat mir gesagt, dass Ihr eine Zofe braucht. Falls ich nicht zufriedenstellend bin, sollt Ihr ihm Bescheid geben, dann sucht er jemand anderen.« Die Worte wurden zum Bettüberzug gesprochen, den die junge Frau ordentlich zurückschlug, und sie ertönten auf Südwäldisch mit so starkem Akzent, dass man sie kaum verstehen konnte.
Mit leichter Verzögerung erinnerte sich Sham an ihre Rolle als Mätresse des Vogts und antwortete entsprechend – auf Cybellisch mit Akzent. »Solange du die Zunge über meine persönlichen Angelegenheiten hütest und das tust, was ich sage, wird ein Ersatz nicht nötig sein.«
»Nein, Herrin … Ich meine, ja, Herrin.«
Sham bedachte die Zofe mit einem abwägenden Blick. Jenli ähnelte Lord Kerims Kammerdiener nicht einmal ansatzweise. Er war groß und schlank, sie klein und rundlich. Jeder Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, zeigte sich zuerst in ihrem Gesicht. Es würde lange dauern, falls sie es überhaupt je schaffte, sich den von Dickon bevorzugten, tadellosen Bedienstetenblick anzueignen – den Gezeiten sei Dank.
Sham ließ das Messer in der Hand verschwinden, damit die Zofe es nicht zu sehen bekam, stieg aus dem Bett und schlenderte träge zur Truhe am Fußende. Als sie völlig ungezwungen das weiche Spitzennachtkleid zu Boden gleiten ließ, errötete Jenli und widmete dem Bettüberzug noch eingehendere Beachtung.
Sham öffnete die frisch für Lady Shameras Güter des täglichen Bedarfs erworbene Truhe und nahm den Inhalt in Augenschein: die wenigen Kleidungsstücke, die ihr die Schneiderin sofort zur Verfügung stellen konnte; ihr Bündel mit der Kluft für Fegfeuer; die Flöte, die sie in der Todesnacht des Alten Mannes gestohlen hatte; und mehrere Segeltuchsäcke voll Sand, damit die Truhe so viel wog, wie sie wiegen sollte. Vermutlich wäre es klüger gewesen, die Flöte in ihrer Höhle zu lagern, aber sie stellte eine Verbindung zu Maur dar, und Shamera hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von ihr zu trennen.
Als Jenli an sie herantrat, um ihr zu helfen, warf Sham ein ordentlich zusammengelegtes Kleid quer durch den Raum. Wie ein sterbender Schmetterling segelte es zu Boden. Jenli hob die Hände an die Wangen und hastete los, um das teure Material zu retten.
»Oh, Herrin, die Kleider hätten aufgehängt werden sollen und … wartet, lasst mich das nehmen.«
Flink wie eine Taschendiebin riss ihr die scheue, sanftmütige Zofe das Goldbrokat-Überkleid aus den Händen. Als ihr die Zofe den Rücken zukehrte, um das Kleidungsstück in den Schrank zu hängen, holte Sham aus der Truhe das Kleid, das sie eigentlich haben wollte, schloss den Deckel und versiegelte ihn mit einer Prise Magie.
Das von ihr gewählte Kleid wies einen so dunklen Blauton auf, dass es beinahe schwarz wirkte, was ihre Augen perfekt betonte. Das helle Gelb der Bordüren entsprach der Farbe ihrer Haare. Die Ärmel bedeckten die Arme und Schultern vollständig, der Rücken besaß einen hohen Ausschnitt, und der Kragen umgab eng ihren Hals. Jenli stand hinter ihr und schloss die Vielzahl der Knöpfe, die sich über den Rücken des Kleids erstreckten. Als sich Sham umdrehte, weiteten sich die Augen der Zofe ein wenig.
»Wo ist das Unterkleid, Herrin?«, fragte die junge Frau unsicher.
»Welches Unterkleid?«
Jenli räusperte sich. »Heute Morgen sind einige Päckchen von der Schneiderei eingetroffen. Soll ich sie heraufbringen lassen, Herrin?«
Sham nickte abwesend und rückte das Kleid zurecht, um die bestmögliche Wirkung zu erzielen. »Danke. Wo ist der Vogt heute Morgen?«
»Das weiß ich nicht, Herrin, tut mir leid. Soll ich Euch nun die Haare richten?«
»Bürste sie einfach durch«, gab Sham zurück, dann fügte sie in quengeligem Tonfall hinzu: »Ich muss Kerim finden.«
Die Zofe führte sie zu einer zierlichen Bank, die vor einem kleinen Bronzespiegel stand. Während sie die dichte blonde Mähne bürstete, nahm Shamera zufrieden das Kleid in Augenschein.
Es war tatsächlich dafür gedacht, mit einem Unterkleid getragen zu werden. Die Seide endete unmittelbar unter der Wölbung ihrer Brüste, was einen fesselnden Anblick von deren Unterseiten bot, sobald sie sich bewegte. Es gelang dem Kleid, ihren Busen auf eine Weise zu betonen, durch die er wesentlich üppiger wirkte, als er in Wirklichkeit war. Das Material beschrieb an den Seiten einen anmutigen Bogen und ließ ihren Nabel frei, bevor es an den Hüften wieder zusammen verlief.
Für südwäldische Verhältnisse handelte es sich keineswegs um einen anstößigen Schnitt. Abseits der kühlen Meeresluft von Landsend entsprachen ein besticktes Mieder und ein Rock, die als Ensemble den Bauch entblößt ließen, einem der traditionellen Bekleidungsstile. Empörend wurde das Kleid vielmehr durch den Gegensatz, den der schlichte Schnitt und die Farbe des Stoffes zur nackten Haut bildeten.
Als die Zofe mit den Haaren fertig war, trug Shamera ihre Schminke selbst auf, schattierte die Lider mit grauem Puder und färbte die Lippen rot. Gesichtspuder hatte sie noch nie für längere Zeit ertragen, deshalb ließ sie ihn weg. Nachdem sie ihre morgendliche Toilette abgeschlossen hatte, begab sie sich anmutig zur Tür neben dem Kamin und achtete nicht auf jene, die hinaus auf den Gang führte.
»Mein Lord?«, sagte sie leise und öffnete die Tür einen Spalt, damit der Vogt sie hören konnte.
»Komm nur herein.«
Sie duckte sich geziert unter dem schweren Material der Wandbehänge hindurch und betrat den Raum. Kerim unterhielt sich mit mehreren Adeligen, doch als Shamera über den weichen Teppich schlenderte, verstummte das Gespräch.
»Herrin.«
Shamera schaute hinter sich und erblickte die geduckt zur Tür hereinkommende Zofe. In den Händen hielt sie ein Paar Satinpantoffel, die zu dem blauen Kleid passten.
»Wie dumm von mir, meine Pantoffeln zu vergessen. Danke.« Sie nahm die Schuhe entgegen und zog sie an.
»Guten Morgen, meine Lady.« In der Stimme des Vogts schwang Belustigung mit. »Es dauert nur einige Augenblicke, dann können wir frühstücken.«
»Danke, Kerim … mein Lord.«
Shamera näherte sich ihm und küsste ihn auf die Wange, bevor sie neben ihn auf den Boden sank und zu seinem Gesicht aufschaute. Eine leichte Röte zeichnete sich an seinem Wangenknochen ab. Sie war nicht sicher, ob es an unterdrückter Heiterkeit, Verlegenheit oder etwas anderem lag. Die Stille im Raum zog sich unangenehm lange hin, bevor einer der Männer wieder das Wort ergriff. Als die anderen letztlich den Raum verließen, war Shamera dankbar, dass niemand zurückschaute und sah, wie sich Kerim förmlich in Gelächter auflöste.
»Dieses Kleid …«, stieß er japsend hervor, als er genug Luft dafür bekam.
Ahnungslosigkeit heuchelnd sah sie ihn mit geweiteten Augen an. »Was meinst du nur? Stimmt etwas nicht damit?«
Er lachte immer noch zu ausgelassen, um mühelos eine Erwiderung rauszubekommen. »Hast du Corads Gesicht gesehen, als du den Raum betreten hast? Er ist Kerlaner. Bei ihnen müssen die Frauen zu Hause bleiben und einen Schleier tragen. Ich dachte, ihm würden gleich die Augen herausfallen und sich auf dem Boden zu seinen Füßen gesellen.« Er lehnte sich entspannt im Stuhl zurück, aber seine Schultern zitterten immer noch, als er mit einem Finger auf sie zeigte. »Und du warst mir überdies nicht die geringste Hilfe, Fräulein Umwerfend. Jedes Mal, wenn ich den Blick von Corads schwitzendem Gesicht abgewandt habe, musste ich unweigerlich dich ansehen.«
»Selbstbeherrschung«, erwiderte Shamera grinsend, »tut dir gut.«
5
»Vermutlich wäre es klüger, bis zur nächsten Abendsitzung zu warten«, erklärte der Vogt, als er sie durch die Korridore führte, »aber dann werden so viele Leute da sein, dass man die eigenen Gedanken nicht mehr hören kann. Außerdem würde ich die Wirkung dieses Kleids nicht vergeuden wollen.«