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Sham nickte und bemerkte einen Mann, der neben einer der Türen stand und wie eine Henne wirkte, die sich in einen Fuchsbau verirrt hatte. Im Gegensatz zur Seide und dem Satin der Adeligen trug er dunkle, schlichte Kleidung und die Stiefel eines Reiters, der sich nicht davor scheute, selbst den Stall auszumisten.

Sie übte mit ihren auf Kerims Schulter ruhenden Fingern einen leichten Druck aus, und der Vogt drehte den Kopf. Als er sah, wohin sie schaute, hob er eine Hand, um dem anderen Mann zu bedeuten, er möge warten, während er sich einen Weg zur Tür bahnte.

Kerim hielt nicht an, um sich zu unterhalten, sondern rollte einfach weiter durch den Bogendurchgang in den Korridor dahinter. Der andere Mann folgte Shamera und zog die Tür hinter sich zu.

»Wieder Elsic?«, fragte der Vogt in niedergeschlagenem Tonfall.

»Aye, Herr«, erwiderte der Stallknecht.

Elsic, dachte Sham, die ›Quelle‹ von Talbots Theorie über Dämonen. Sie fragte sich, wie viel er darüber wusste.

In bemerkenswertem Gegensatz zu den anderen Gängen der Feste verlief dieser Korridor gerade. Es gab keine Öffnungen, bis sie das Ende erreichten, wo eine grob gearbeitete Tür offen stand. Ein dicker Balken lehnte an der Wand und konnte offensichtlich benutzt werden, um die Tür zu verbarrikadieren, wenn es sein musste. Sham trat hindurch und kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen.

Große, steinummauerte Koppeln beherbergten Stuten mit dicken Bäuchen und deren seidig glänzende Fohlen. Der schmale Pfad, der zwischen der Mauer der Weide und der Burg verlief, schien erst unlängst mit Holzlatten ausgelegt worden zu sein. Da der Bereich nicht aussah, als würde er allzu stark frequentiert, vermutete Shamera, dass man den Bretterweg für den Rollstuhl des Vogts errichtet hatte.

Der Pfad folgte den Mauern der Feste, die sich in einem nur wenigen und längst verstorbenen Baumeistern bekannten Muster krümmten, und endete nach einer jähen Kurve auf einem Hof mit angrenzenden Stallungen.

Shams Aufmerksamkeit heftete sich sofort auf ein Gebilde mit hohem Dach, gefüllt mit hohen Heuhaufen. Davor hatte sich eine kleine, aufgeregte Menschenmenge eingefunden. Und auf dem Dach befand sich ein Mann. Sham verwirrte das ein wenig, zumal er dort nichts Nützliches zu tun schien.

»Ich hab ihn geholt, Stallmeister!«, brüllte der Mann, der sie aus dem öffentlichen Saal hergeführt hatte.

Ein drahtiger alter Mann löste sich aus der Schar der Stallknechte, deren Mehrheit mittlerweile die Aufmerksamkeit auf den nahenden Vogt gerichtet und sich von der Ursache des Tumults abgewandt hatte.

Als der Vogt Sham näher zu der Heuscheune führte, erkannte sie, dass es sich bei der Gestalt auf dem Dach gar nicht um einen Mann handelte, sondern um einen Knaben, der vielleicht zehn oder elf Sommer alt sein mochte. Haut und Haare waren so hell, dass sie weiß zu sein schienen. Er saß da, als nähme er den Lärm unter ihm überhaupt nicht wahr. Seine Füße baumelten über den Rand des Daches, und er stützte das Kinn in die Hände – der Inbegriff des Trübsinns.

»Danke, dass Ihr gekommen seid, Herr«, sagte der Stallmeister auf Cybellisch. Dabei schwang in seiner Stimme ein so schwerer Ostländerakzent mit, dass Sham Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Warum ist er da raufgeklettert?«, fragte Kerim mit gerunzelter Stirn.

Der Mann legte seinerseits die Stirn in Falten. »Wegen mir, Herr. Ich hab den Burschen schon wieder mit Eurem Hengst erwischt.«

»Nachdem ich letztes Mal mit ihm geredet habe?«, hakte der Vogt nach.

Der Stallmeister nickte. »Der Hengst ist in letzter Zeit übler Laune; gestern hat er seinen Pfleger getreten. Brandmal ist ja nie ein einfaches Pferd gewesen, und er bekommt heutzutage nicht mehr so viel Arbeit wie früher. Niemand von uns will, dass der Bursche noch verletzt wird, und ich vermute, ich bin wohl härter mit ihm umgesprungen, als ich es hätte tun sollen.«

Kerim nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Der Hof erwies sich als uneben, und die Räder des Stuhls blieben in der groben Erde stecken. Sham trat hinter ihn und unterstützte seine Bemühungen mit ihrem Gewicht. Kerim wartete, bis er sich unmittelbar unter dem Jungen befand, bevor er das Wort ergriff.

»Sofern du dir keine Flügel wachsen lassen kannst, Elsic, ist dein Sitzplatz ein wenig zu hoch für meinen Geschmack«, merkte der Vogt in beiläufigem Tonfall an.

Der Knabe erschrak. »Herr?«

»Komm runter, Junge.« Kerims Stimme ertönte zwar sanft, aber mit genug Befehlsgewalt, dass der Knabe nach unten fasste, sich an einem großen Balken unter dem Dach festhielt und mit einem Überschlag vom Rand sprang.

Jemand in Shams Nähe stieß einen Fluch aus. Mit dem geübten Blick der Expertin beobachtete sie, wie geschmeidig und mühelos der Junge herabkletterte. Sie besaß genug Erfahrung mit ähnlichen Tätigkeiten, um zu wissen, dass es bei ihm wesentlich einfacher aussah, als es in Wirklichkeit war. Mit Leichtigkeit schwang er sich von einem Querbalken zum anderen, bis er einen lotrechten Pfeiler erreichte, an dem er herabrutschte.

Als er geschickt auf den Füßen landete, stellte Sham fest, dass der Junge nicht der Albino war, der er auf den ersten Blick zu sein schien – seine Augen waren sehr dunkel, beinahe schwarz. Außerdem korrigierte sie ihre Schätzung seines Alters. Wie die meisten Straßenkinder, die sie kannte, war er lediglich klein für die Zahl seiner Lebensjahre. Sein eigenartiges Verhalten ließ sie nachdenklich die Stirn in Falten legen.

»Komm her«, forderte der Vogt ihn auf.

Sham warf ihm einen Seitenblick zu: Der Junge war doch bereitwillig heruntergeklettert, er brauchte keine weitere Aufforderung. Erst als Elsic die Hand ausstreckte, um den Stuhl des Vogts zu berühren, und sich dann auf die Fersen kauerte, begriff Sham, dass Kerims Worte kein Befehl, sondern eine Orientierungshilfe gewesen waren: Der Junge war blind – wie der Alte Mann.

»Wie ich höre, bist du schon wieder in Schwierigkeiten geraten«, sagte Kerim in verständigem Tonfall.

Elsics Züge wirkten noch trauriger als zuvor. »Er wird mir nicht wehtun. Er ist einsam, und er mag mich.«

Der Vogt saß einige Augenblicke lang still da und rieb sich das Kinn. Schließlich meinte er: »Unter den meisten Umständen würde ich dir zustimmen, aber da ich an diesen Stuhl gefesselt bin, bekommt er nicht die Ertüchtigung, die er haben sollte. Der Stallmeister tut, was er kann, aber Brandmal ist ein Schlachtross. Gestern hat er seinen Pfleger getreten.«

Elsic runzelte die Stirn, zögerte und erwiderte dann: »Sein Pfleger kaut Bettlersegen, wenn der Stallmeister nicht hinschaut. Pferde mögen es nicht, wenn sich Menschen komisch verhalten.«

»Der Pfleger kann von Glück reden, dass ihm Brandmal nicht den Kopf abgerissen hat, wenn er Bettlersegen im Blut hatte«, gab Kerim ihm recht. »Hast du das gehört, Stallmeister?«

Der alte Mann brummte. »Ich hab ihn einmal dabei erwischt. Wenn er’s immer noch tut, kann er’s künftig in jemand anderes Stall tun.«

Diese Haare, diese Haut, die Augen … Sham streckte den Arm aus und berührte den Jungen zart an der Schulter. Die Kraft seiner Magie fühlte sich beinahe schmerzhaft an in ihren Händen.

Er richtete sich auf und legte den Kopf schief. »Wer bist du?«

Sham sah sich auf dem überfüllten Stallhof um. »Ich bin eine Freundin des Vogts«, antwortete sie schließlich. Dann fügte sie mit so leiser Stimme hinzu, dass es nur Elsic und der Vogt hören konnten: »Und ich bin Magierin.«

Elsic lächelte aufrichtig.

»Mein Lord«, sagte sie, »ich denke, ihm kann mit deinem Schlachtross nichts passieren. Ich bezweifle, dass der Hengst ihn verletzen würde.«