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Der Vogt musterte sie eine Weile nachdenklich, dann richtete er den Blick auf den Knaben. Langsam nickte er. »Dann sei zumindest vorsichtig, Junge.«

Elsic grinste breit. »Ja, Herr.« Er schluckte und fügte leise hinzu: »Manchmal ist es gut, mit einem Geschöpf zusammen zu sein, das so hochmütig und selbstsicher ist. Dadurch fühle ich mich beschützt.«

Der Vogt beugte sich vor: »Hat dich irgendjemand belästigt?«

»Niemand, Herr«, entgegnete Elsic rasch. »Es ist nur … Irgendetwas stimmt hier nicht. Hier treibt sich etwas sehr Altes und Böses herum.« Aus dem Gesicht des Jungen entwich jeglicher Ausdruck, als er sprach, und er drehte sich Sham zu. Mit geradezu unheimlicher Präzision begegnete er ihrem Blick und senkte die Stimme so sehr, dass ihn nur Sham und der Vogt hören konnten. »Es weiß, wer du bist, Magierin, und welche Bedrohung du für seine Absichten bist. Es will den Vogt mehr, als es seit tausend Jahren etwas begehrt hat. Sei sehr vorsichtig.«

»Mache ich«, versprach sie und spürte, wie ihr ein kalter Schauder über den Rücken kroch. Nachdem Shamera ihn sprechen gehört hatte, fragte sie sich, wie der Vogt eine Warnung in den Wind schlagen konnte, die Elsic ausgesprochen hatte – aber so waren die Ostländler nun mal.

Der Junge nickte, wandte sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in den Stallungen. Der Vogt sah Sham einige Atemzüge lang an, dann wendete er seinen Stuhl, und sie trat hastig dahinter, um ihm zu helfen. Beide sprachen kein Wort, bis sie sich allein auf dem schmalen Weg befanden.

»Ich habe ihn vor etwas mehr als einem Jahr gefunden, auf dem von der Geistebbe entblößten Sand.« Kerim verstummte kurz. »Er saß regungslos da, summte ein wenig vor sich hin, trug nichts als einen feinmaschigen Kilt.«

Wieder verstummte er eine Weile, blieb mit dem Rollstuhl stehen und betrachtete eine Stute und deren geflecktes Füllen. »Ich vermute, dass ihn jemand dort zum Sterben ausgesetzt hat, weil er blind ist. Die Menschen hier sind von einer unnatürlichen Angst vor Blindheit beseelt – sie betrachten sie als Anzeichen böser Magie.« Kerim lächelte freudlos. »Lange Zeit hat er überhaupt nicht geredet. Ich glaube, seine Muttersprache ist weder Cybellisch noch Südwäldisch, aber er hat beides sehr schnell erlernt. Elsic hat mir gesagt, dass er sich an nichts erinnern kann, was vor dem Zeitpunkt liegt, als er hier aufgewacht ist.

Anfangs behielt ich ihn bei mir in der Feste, aber es nahm mich stark in Anspruch, die Geschicke Südwalds zu lenken. Ich bekam nicht mit, dass einige der Adeligen den Jungen quälten, bis Dickon mich darauf hingewiesen hat.« Seufzend schüttelte Kerim den Kopf. »Elsic hat ein Händchen für Tiere, und der Stallmeister ist ein freundlicher Mann, der seine Burschen uneingeschränkt im Griff hat, weshalb ich Elsic seiner Obhut übergab. Ich hoffe, er wird in die Gemeinschaft der Stallungen so eingegliedert, dass …« Unwillkürlich krampften sich die Hände des Vogts um die Armlehnen des Stuhls, dennoch fuhr er einigermaßen ruhig fort. »… dass ihm, wenn ich nicht mehr da bin, niemand wehtut, nur weil er so ist, wie er ist.«

»Ich werde ein Auge auf ihn haben«, versprach Sham leise. »Falls Probleme auftreten, gibt es Orte, an denen er in Sicherheit wäre. Zauberer sind an seltsame Geschöpfe gewöhnt und würden ihm nichts tun.«

»Woher weißt du, dass ihm mit Brandmal nichts passieren kann?«, wollte Kerim wissen.

Sham zuckte mit den Schultern. »Selkies sind gut im Umgang mit Tieren.«

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

Sham lächelte und fuhr im Plauderton fort. »Selkies gehören zu den Meeresvölkern. In der Regel treten sie in Form von weißen Seehunden mit dunklen Augen auf. Ich würde meinen, dass das wohl eine besser zum Schwimmen geeignete Gestalt als der menschliche Körper ist. Keinem Seemann, der lange leben möchte, fiele es auch nur im Traum ein, je einen weißen Seehund zu erlegen – frag Talbot. Angeblich sind sie eine Kriegerrasse, zu ihrer eigenen Art genauso gnadenlos wie zu anderen. Wird einer zu alt oder verwundet, greifen sie ihn an, vertreiben ihn oder töten ihn nach Lust und Laune. Ich hätte nicht gedacht, dass sie ein blindes Kind länger als die ersten Stunden am Leben gelassen hätten – seine Mutter muss sehr schlau gewesen sein.«

Der Vogt schien all das recht gefasst aufzunehmen, also fuhr sie fort. »Sein Volk benutzt keine menschliche Magie. Es hat Zugang zu Wissen, das mir verwehrt ist. Ich würde eine Warnung, die er dir bereitwillig gibt, sehr, sehr ernst nehmen.«

Kerims Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und er schüttelte den Kopf. »Ich denke, eigentlich sollte ich diese Frage jetzt nicht stellen – wäre Dickon hier, würde er mich glatt verleugnen. Aber was hat Elsic damit gemeint, als er sagte, der Dämon wolle mich?«

»Wenn wir davon ausgehen, dass es Magie wirklich gibt?«, fragte Sham mit hochgezogenen Augenbrauen.

Kerim seufzte theatralisch und nickte.

Sham schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ist dir irgendetwas Besonderes widerfahren, als die Morde angefangen haben?«

»Hmm … es muss vor etwa acht Monaten gewesen sein. Ungefähr zu dieser Zeit habe ich Elsic zu den Stallungen umgesiedelt. Und ein guter Freund von mir ist an der Schwindsucht gestorben.« Kurz schloss er die Augen und lehnte sich zurück. »Meine Mutter hat den Koch entlassen. Meine Lieblingsstute hat gefohlt. Mein Rücken fing zu schmerzen an.«

»Zu der Zeit haben deine Rückenprobleme begonnen?«

Kerim nickte. »Ich hab ihn mir auf dem Rückweg von Fahills Bestattung verrenkt.«

»Lady Skys Ehemann?«

Der Vogt nickte knapp, dann setzte er sich wieder mit dem Stuhl in Bewegung. »Komm. Wenn wir uns beeilen, haben wir noch Zeit, um zu essen, bevor Brath und sein Gefolge in meine Gemächer einfallen.«

Tatsächlich hatte Dickon kaum die Tabletts hinausgetragen, als es bereits an der Tür des Vogts klopfte.

»Ich öffne«, bot Sham an.

Der Hohepriester wartete auf dem Gang. Der schöngeistig wirkende Fykall stand einen Schritt hinter ihm. Brath nickte ihr zu, als er eintrat. »Ihr könnt uns jetzt verlassen, Lady Shamera.«

Sie schaute zu Kerim, der mit der Hand eine ablehnende Geste machte. Shamera schloss die Tür, nachdem Fykall eingetreten war, und sagte freundlich: »Tut mir wirklich leid, Lord Brath, aber mein Lord hat Kopfschmerzen, und ich habe versprochen, etwas dagegen zu unternehmen, sobald Ihr gegangen seid.« Sie schob sich an den beiden Kirchenvertretern vorbei und nahm anmutig auf dem Stuhl neben Kerim Platz, wodurch den Besuchern nur die Stühle ihm gegenüber blieben.

»Ihr habt gesagt, Ihr habt einen Brief für mich?«, fragte Kerim.

Lord Brath gab Fykall ein Zeichen, der daraufhin einen versiegelten Kurierumschlag aus seinem Ranzen zog und Kerim reichte. »Wie Ihr seht, habe ich die Siegel nicht gebrochen.«

Kerim schaute auf und zog eine Augenbraue hoch. »Ich bezweifle auch, dass Ihr das vermocht hättet, Lord Brath. Die Stimme hat Wege und Mittel, um zu verhindern, dass Briefe in falsche Hände geraten.« Mit einem Finger berührte er das Siegel, das sich bereitwillig öffnete, ohne dass ein Brieföffner gebraucht wurde.

Sham beugte sich zur Seite und las schamlos über die Schulter des Vogts mit. In dem Umschlag befanden sich zwei Bögen Papier. Beim Ersten handelte es sich um ein schlichtes Blatt mit einer hastig gekritzelten Botschaft, die lediglich besagte:

Tut mir leid, dass ich ihn dir antun musste, aber der alte Narr genießt die Gunst von Altis. Mir ist niemand eingefallen, der besser mit ihm zurechtkäme als du. Ich hoffe, das hilft.

Terran

Das zweite Blatt wies eine offizielle Prägung auf. Der Verfasser hatte die Kunst der Schönschrift dermaßen ausgelebt, dass Sham aufstehen und sich unmittelbar hinter Kerim stellen musste, um die Nachricht entziffern zu können. Der Brief war gefaltet, weshalb sie das oberste Drittel nicht sehen konnte, aber den wesentlichen Inhalt des Schreibens konnte sie lesen.