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Hiermit sei verkündet, dass Altis’ oberstes Begehr lautet, dass all seine Untertanen in Frieden leben. Zu diesem Behufe soll der Vogt von Südwald solche Urteile nach eigenem Ermessen fällen. Alle, die da leben in Südwald, haben sich seinen Entscheidungen zu fügen.

Gezeichnet am heutigen Tage von
Terran, der Stimme und den Augen von Altis

Als Sham den Terran aus dem ersten Schreiben mit der Stimme von Altis verknüpfte, begann Kerim, das offizielle Schreiben laut zu verlesen. Als er fertig war, schaute er zum Hohepriester auf.

Seine Stimme legte den förmlichen Tonfall ab, mit dem er den Brief vorgelesen hatte. »Natürlich werde ich das Original behalten. Wenn Ihr eine Abschrift haben möchtet, kann Fykall gerne bleiben und sie für Euch anfertigen.«

Der Hohepriester stand stocksteif da und wirkte deutlich älter als beim Betreten der Gemächer. »Das wird nicht nötig sein, Lord Kerim. Komm, Fykall, im Tempel gibt es Verschiedenes zu erledigen.«

Der kleine Priester nickte, doch bevor er seinem von dannen ziehenden Vorgesetzten folgte, streckte er die Hand aus und klopfte Kerim noch zweimal mitfühlend auf die Schulter.

Sham wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann meinte sie: »Sieht einem Kirchenmann ähnlich, dass er einem den ganzen Spaß daran verdirbt, ihn in die Schranken zu weisen.«

Kerim bedachte sie mit einem wenig erfreuten Blick. »Mach dich niemals über den Schmerz eines Mannes lustig.«

Sie warf den Kopf zurück. »Was wir da gesehen haben, war kein Schmerz, sondern vereitelter Ehrgeiz. Ich habe kein Mitgefühl für Lord Brath übrig – er kennt auch keine Gnade für jene, die seiner Macht unterstehen.«

Kerim musterte ihre Züge; er hatte schon zu oft miterlebt, wie blinder Hass Menschen zum Verhängnis wurde, um tatenlos dabei zuzusehen, wie er ein weiteres Opfer verschlang. »Mag sein, dass du recht hast, und er verdient unser Mitgefühl nicht. Aber Shamera, wenn wir es gar nicht erst empfinden – inwiefern sind wir dann besser als er?«

Sie schnaubte abschätzig und ging zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Krug Wasser und mehrere Becher standen.

Als sie einen davon mit Wasser füllte, schien sie das Thema zu wechseln. »Weißt du, ich habe mich immer gefragt, warum es nie eine offizielle Verfügung gegen Magie gegeben hat, obwohl Altis sie so sehr ablehnt.«

»Und mir wirfst du grobe Unwissenheit vor«, murmelte er nachdenklich.

Shamera drehte sich mit dem Becher in der Hand um und sagte: »Wie bitte?«

»Selbst wenn Magie echt wäre, würde es keine Verfügung dagegen geben. Soweit ich weiß, hat Altis nie eine Anordnung dafür oder dagegen erlassen.«

Sie runzelte die Stirn. »Nach dem Fall der Feste hat Lord Brath Magie zu einem Frevel an Altis erklärt und die Soldaten dazu angestiftet, jeden zu töten, der vielleicht ein Magier sein könnte.«

»Angst kann uns alle manchmal zu Dummköpfen machen. Brath wurde für seine Rolle bei den Gräueln nach der Eroberung von Landsend offiziell gemaßregelt.«

Shamera stellte den Becher ab, ohne daraus zu trinken, und wanderte ziellos in der Kammer umher. »Ich mag ihn nicht.«

»Brath? Ich auch nicht. Er ist ein hochmütiger, selbstgerechter, eigennütziger Wurm«, gab er ihr leichthin recht.

Sie streckte das Kinn vor. »Sähe ich, wie er ertrinkt, so würde ich ihm kein Seil zuwerfen.«

»Die Frage ist«, meinte Kerim langsam, »würde er dir eines zuwerfen?«

6

Sham betrat ihr Zimmer mit einem müden Seufzen. Ohne nach der Zofe zu rufen, wie es, wie sie durchaus wusste, den Gepflogenheiten entsprochen hätte, streifte sie hastig das blaue Kleid ab und ließ es dort liegen, wo es hinfiel. An diesem Abend fühlte sie sich zu erschöpft, um bloß für die Zofe Lady Shamera zu spielen. Auf dem Bett lag ein Nachtkleid für sie vorbereitet, das sie dankbar anzog.

Etwas nagte unterschwellig an ihrer Aufmerksamkeit, und sie starrte mit gerunzelter Stirn zum Sims über dem Kamin. Shamera besaß ein sehr gutes Auge für Einzelheiten und ein Gedächtnis, das sie selten im Stich ließ: Der Zierrat auf dem Sims war bewegt worden. Jemand hatte sich in ihrem Zimmer aufgehalten, während sie weg gewesen war.

Schlagartig wachsam bemerkte sie außerdem, dass die Schlüssel im Schloss der Truhe steckten, als hätte jemand versucht, den Deckel zu öffnen. Sham streckte sich und entspannte bewusst die Muskeln. Dies war nicht Fegfeuer, hielt sie sich vor Augen – sie war hier im Palast sicher die einzige Diebin.

Die Diener waren hier gewesen, um den Sims abzustauben, und dabei hatten sie einige der Figürchen und den Zierdolch bewegt. Jenli hatte dann wahrscheinlich versucht, die Truhe zu öffnen, um den Rest der Kleider darin zu verstauen – was ihr aber ohnehin nicht gelungen sein konnte, denn auch ohne hinzusehen, wusste Sham, dass der Verschlusszauber nicht gebrochen war.

Dennoch öffnete sie den Deckel und durchwühlte die restlichen Kleidungsstücke, um sich zu vergewissern, dass nichts durcheinandergebracht worden war. Die Flöte lag da und schien ihre Berührung geradezu zu erwarten. Ihr Lockruf fühlte sich so stark an, dass sich Shamera förmlich zwingen musste, das Instrument wieder mit der Tunika zu verhüllen.

Auch ihr Messer und ihr Dolch fehlten nicht, beide mit schmaler, zu tödlicher Schärfe gewetzter Klinge. Auch das Rüstzeug ihres Diebeshandwerks war vorhanden, ordentlich in seinem kleinen Werkzeugsatz verstaut. Ohne das Instrumentarium fühlte sie sich nackt, obwohl sie es im feinen Umfeld am Hof kaum benötigen würde. Wenn sie morgen erst einmal mit den Durchsuchungen der Häuser der Höflinge begann, konnte sie es jedoch gut gebrauchen.

Sham schloss die Truhe und verriegelte sie, zuerst mit dem Schlüssel, danach mit Magie. Sie ergriff einen an der Wand lehnenden Dochtlöscher mit langem Stiel und begann, eine Kerze nach der anderen zu löschen.

Natürlich hätte sie dafür Magie verwenden können, aber die setzte sie schon aus Gewohnheit stets sparsam ein. Ein Zauberer, der seine Magie auf Kleinigkeiten vergeudete, würde unter Umständen in Notzeiten nichts mehr zur Verfügung haben. Und sollte sich tatsächlich ein Dämon frei in der Feste herumtreiben, würde sie ihre Magie vermutlich noch dringend benötigen – und Sham war überzeugt davon, dass er sich in der Feste befand. Zu den am stärksten ausgeprägten Gaben von Seehundmenschen gehörte dem Vernehmen nach ihre Empfänglichkeit für drohende Gefahren. Wenn Kerims Selkie sagte, der Dämon sei hier, dann war er auch hier.

Als sich Sham auf die Zehenspitzen aufrichtete, um den kleinen Kronleuchter zu erreichen, der in der Mitte des Raums von der Decke hing, lief ihr ein seltsamer Schauder über den Rücken. Das Gefühl ähnelte der Empfindung, die ihr die verschobenen Ziergegenstände auf dem Kaminsims beschert hatten, allerdings gab es in diesem Fall keine so banale Ursache. Unauffällig umkreiste sie den Kronleuchter und ließ den Blick prüfend über die Schatten wandern, die sämtliche Winkel des Raumes verhüllten. Sie konnte nichts sehen, trotzdem war sie überzeugt davon, dass sich etwas bei ihr befand.

Langsam verdunkelte Sham das Zimmer weiter. Sie bewegte sich auf den Kamin zu und löschte die drei großen Kerzen am hinteren Ende des Simses. Dabei musste sie sich zwingen, die Hände ruhig zu halten.

Abwehrzauber wirkten gegen magische Wesen wie Dämonen und Drachen nur, wenn der Bann um das Heim des Zauberers angebracht wurde, und zwar von jemandem, der um die genaue Beschaffenheit der abzuwehrenden Kreatur wusste. Selbst wenn Sham sattelfester in Dämonologie gewesen wäre, als sie es tatsächlich war, so befand sie sich doch inmitten des Jagdgebiets dieses Dämons – und fühlte sich allmählich wie ein Abendessen.

Nachdem Sham die letzte Kerze gelöscht hatte, lehnte sie den Dochtlöscher neben den Kamin und starrte auf den polierten Boden, als sei sie tief in Gedanken versunken – eher würde das Meer zufrieren, als dass sie ins Bett mit dessen hinderlichen Decken kroch, während sich ein angriffslustiger Dämon bei ihr im Zimmer aufhielt. Es schien nicht der beste Zeitpunkt zu sein, um sich daran zu erinnern, dass ein Mord des Dämons überfällig war.