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Seltsamerweise erwies sich das Tuch, das den Stuhl verhüllte, als jungfräulich weiß, als hätte jemand absichtlich dafür gesorgt, dass es sauber blieb. Ein Leichentuch, dachte sie. Nicht dafür gedacht, den Körper zu verbergen, der sich deutlich darunter abzeichnete, sondern dafür, das arme Dienstmädchen zu verängstigen, das beim nächsten Putzen in dem Raum darauf stoßen würde.

Sie überwand sich, nach vorn auf den dunkel befleckten Boden in der Nähe des Stuhls zu treten. Da sie an dem Körper nicht mehr als unbedingt nötig verändern wollte, zog sie das Tuch behutsam davon ab und warf es auf den Tisch daneben.

Sham lebte schon lange in Fegfeuer. Der Anblick einer Leiche, ganz gleich, wie übel sie auch zugerichtet war, beunruhigte sie nicht … sehr. Es bedurfte keiner eingehenden Untersuchung des Toten vor ihr, um zu folgern, dass ihr einstiger Meister von derselben Kreatur getötet worden war wie dieser Mann. Dünne Schnitte überzogen die Haut, genau wie bei Maur.

Der Kopf war nach vorn gesackt, sodass die Gesichtszüge ihrem Blick verborgen waren. Die Aussichten darauf, dass sie den Mann erkennen würde, schätzte sie gering ein; dem Zustand des Leichnams nach war er ungefähr zu der Zeit getötet worden, als sie in die Feste gezogen war. Trotzdem musste sie nachsehen. Statt den Körper zu bewegen, kauerte sich Sham so tief nieder, dass sie nach oben ins Gesicht blicken konnte.

Als sie die geschundenen, vom Tod gräulich verfärbten Züge sah, musste sie schwer schlucken, um das Grauen zu überwinden, das ihr förmlich das Blut in den Adern gerinnen ließ. Dieser Mann war seit mindestens drei Tagen tot, eher länger. Im Tod zeigte sich Lord Ven nicht annähernd so gutaussehend wie bei ihrer letzten Begegnung – vor weniger als einer Stunde.

Der Vogt saß in seinem Stuhl vor dem Feuer, wo sie ihn zurückgelassen hatte; von Dickon fehlte jede Spur. Bei Shams unverhofftem Eintreten schaute er auf. Er wirkte so müde und erledigt, dass sie sich fragte, ob sie nicht Talbot suchen sollte.

»Was ist?«, fragte er, drehte den Stuhl leicht und schob ihn auf sie zu.

Shamera biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe eine Leiche im Zimmer neben meinem gefunden.«

Die Müdigkeit verschwand aus den Zügen Kerims und wurde von Erregung verdrängt. Sham erkannte, dass ihm Niedergeschlagenheit genauso sehr wie Erschöpfung und Schmerzen zu schaffen machten. Sie war nicht sicher, ob die Entdeckung der Leiche seines Halbbruders seiner Wehmütigkeit besonders zuträglich sein würde. Wortlos rollte er auf dem Weg zur Öffnung, die in den Durchgang führte, an ihr vorbei.

»Kerim?« Ihre Stimme klang vor Anspannung belegt.

Er hielt inne und sah sie fragend an. Shamera senkte kurz den Kopf, bevor sie seinem Blick begegnete. »Es ist Lord Ven.«

Sie bemerkte, wie flüchtig etwas in seinen Augen aufblitzte, bevor sein Gesichtsausdruck unlesbar und hart zu dem des kampferprobten Kriegers wurde. Er nickte und setzte den Weg durch die Tür zum Gang fort. Sham ergriff eine entzündete Kerze von einem nahen Tisch, denn das Magierlicht hatte sie gelöscht, bevor sie in Kerims Gemächer gekommen war. Sie folgte dem Vogt.

Sie hatte die Tür zu dem Raum angelehnt gelassen, und der Gestank strömte in den Tunnel heraus. Shamera hob die duftende Kerze näher an die Nase; es half nicht. Kerims Stuhl passte nur mit Mühe durch den schmalen Eingang; die Naben hinterließen tiefe Kerben im Holz, als er sich hindurchzwängte. Unmittelbar hinter der Öffnung hielt er inne.

»Halt die Kerze höher«, sagte er. Sein Tonfall ließ es mehr wie eine Bitte denn einen Befehl klingen.

Sham hob die Hand und ließ das flackernde Licht den Raum erhellen. Ihr fielen die gespenstischen Schatten auf. Sie tänzelten, als sich die Flamme am Docht bewegte, und sie war ausgesprochen dankbar dafür, die Leiche nicht im unruhigen Schein von Kerzenlicht gefunden zu haben. Kerim betrachtete den Anblick vor sich eingehend, bevor er weiterrollte, dann hielt er abermals inne und schaute auf die Abdrücke hinab, die Shams Füße im getrockneten Blut hinterlassen hatten.

»Das war ich«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Es gab keine Anzeichen darauf, dass vor mir jemand hier gewesen ist.«

Er nickte und umkreiste den Stuhl und die makabre Gestalt, die das Möbel beherbergte. Shamera beobachtete sein Gesicht und wusste, dass er auf das Muster des Blutes auf dem Boden achtete – die Lache hatte sich sehr gleichmäßig ausgebreitet. Lord Ven war im Stehen getötet und nach dem Eintritt des Todes zu dem Stuhl gebracht worden, wovon auch die Blutspur zeugte, die seine Absätze hinterlassen hatten. Am beunruhigendsten fand der Vogt offensichtlich die riesige Lache. Es gab keinerlei Male, die darauf hinwiesen, wo der Mörder gestanden haben mochte, kein einziges Anzeichen dafür, dass er Blut abbekommen hatte, das sonst auf den Boden getropft wäre, keine blutigen Abdrücke, die den Fluchtweg des Mörders kennzeichneten.

Sham ergriff das weiße Tuch vom Tisch und hielt es so, dass Kerim sehen konnte, was für einen makellosen Zustand es aufwies. »Damit war er verhüllt, als ich hereingekommen bin.«

Kerim runzelte die Stirn und berührte den Stoff, ohne ihn an sich zu nehmen. Er rieb ihn nur sachte zwischen seinen Fingern. Abermals betrachtete er die Flecken auf dem Boden und legte die Stirn in Falten.

»Jemand hat viel Mühe auf sich genommen, um diesen Mord merkwürdig erscheinen zu lassen«, merkte er an. Shamera erwiderte nichts darauf.

Schließlich schob er seinen Rollstuhl über den besudelten Boden und berührte das Gesicht seines Halbbruders, neigte dessen Antlitz nach oben. Shameras Kerze erhellte die hohen, fein geschnittenen Wangenknochen und die breite, gerade Nase, die beide Männer besaßen, bevor er den Kopf behutsam wieder auf die Brust sinken ließ.

Wortlos wischte sich Kerim die Hände an den Oberschenkeln ab – weniger um sie zu säubern, als vielmehr um einem aufgestauten Tatendrang Erleichterung zu verschaffen. Ohne Shamera anzusehen, ergriff er schließlich das Wort. »Mein Bruder ist seit drei oder vielleicht vier Tagen tot. In diesem Raum ist es kühl, daher ist es schwierig, es genau zu bestimmen.«

»Ja«, pflichtete Sham ihm mit tonloser Stimme bei.

»Ich habe heute Morgen mit ihm geredet.«

»Und ich vor einer Stunde«, erwiderte sie ruhig. »Er sagte, er hätte mir etwas Vertrauliches mitzuteilen, aber Dickon kam, um mich zu holen, bevor ich ihn begleiten konnte.«

»Der Dämon.« Kerim starrte auf die Leiche, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In seiner Stimme schwang Überzeugung mit.

»Ich glaube schon, ja«, gab sie ihm recht.

»Ich dachte, ein Dämon könnte nur die Gestalt annehmen, die ihm sein Beschwörer zugedacht hat.« Sein Tonfall klang wieder unverbindlich: Sie vermochte nicht zu beurteilen, was er insgeheim dachte.

Sham zuckte mit den Schultern. »So habe ich es gehört – stimmt anscheinend nicht.«

»Also könnte es jeder sein. Er könnte nach Belieben bald die Gestalt des einen Menschen, bald die eines anderen annehmen.«

Hilflos schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Komm mit«, forderte er sie kurz angebunden auf, als er aus dem Raum rollte, ohne auf das Knirschen zu achten, das der Stuhl ein zweites Mal verursachte, als er über den Rahmen schrammte. »Schließ die Täfelung hinter dir.«

Zurück in seiner Kammer, wartete sie darauf, dass er etwas sagte. Sie hatte das Gefühl, dass er unruhig auf und ab laufen würde, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Da er jedoch an den Stuhl gefesselt war, verlagerte er stattdessen immer wieder das Gewicht, während er ins Feuer starrte.

Plötzlich rollte er zurück und wirbelte herum, sodass er sie unmittelbar ansah. »Magie … Könntest du das auch? Die Gestalt von jemand anderem annehmen?«

Sham schluckte. Sie fand die teilnahmslose Miene des Vogts alles andere als ermutigend. »Nein. Mit sehr wenigen Ausnahmen sind Magier dazu nicht in der Lage. Zu Trugbannen schon. Aber einen Trugbann so gut aufrechtzuerhalten, um Leute zu täuschen, die den nachgeahmten Menschen kennen, das ist nicht möglich. Mein Meister galt einst als der bedeutendste Zauberer von Südwald, als der viert- oder fünftmächtigste der Welt, und er hätte es nicht vermocht. Vielleicht könnte es der Erzmagier, aber ich bezweifle, dass er es so lange könnte.«