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Wieder hallte das Stöhnen durch die Kammer. Die sanfte Helligkeit der Kerzen vertrieb die Finsternis und gestattete es Sham, ihre ursprünglichen Befürchtungen zu Grabe zu tragen. Das Geräusch kam aus den Gemächern des Vogts.

Der Rahmen war schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, als der Vogt die Tür zerstört hatte. Seine Zimmermänner hatten Mühe, sie zu ersetzen, deshalb stellte immer noch ein Wandteppich die einzige Abtrennung zu den Gemächern des Vogts dar. Wäre die Tür an Ort und Stelle gewesen, hätte sie nie und nimmer etwas gehört.

Sie legte sich neben der verhangenen Öffnung auf den Boden und dachte daran, die Kerzen in ihrer Kammer zu löschen, bevor sie sich unter der schweren Wolle hindurchrollte.

Im Kamin des Vogts knisterten fröhliche Flammen vor sich hin. Es entsprach Kerims Gewohnheit, das Feuer reichlich mit Vorrat zu versorgen, damit es die Nacht hindurch brannte; aufgrund der schlechten Durchblutung wurde ihm schnell kalt. Die Flammen boten genug Licht, damit Sham in dem großen Zimmer etwas erkennen konnte. Als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, rappelte sie sich auf die Beine und sah, was ihr in Bodennähe verborgen geblieben war.

Kerim lag steif auf seinem Bett. Während sie ihn beobachtete, wölbte er den Rücken durch, schnappte lautlos nach Luft und verzog gequält das Gesicht. Anscheinend hatte der Wunderwirker seiner Mutter mehr Schaden angerichtet, als sie vermutet hatten.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Kerim ungestört zu lassen. Wenn sie verletzt war, suchte sie sich immer einen dunklen Winkel und saß es aus. Sie hatte sich sogar bereits wieder zu ihrem Zimmer umgedreht und auf den Boden gelegt, um erneut unter dem Vorhang hindurchzurollen, als ein weiteres leises Stöhnen vom Bett ertönte. Genug, so dachte sie, ist genug.

Die Liegefläche von Kerims Bett befand sich in Hüfthöhe, weshalb sie ihn vom Boden aus nicht erreichen konnte. Sie legte ihr Messer an die Ecke der Matratze und stemmte sich hoch – behutsam, um ihn nicht mehr durchzurütteln, als sie musste. Das Messer ließ sie liegen, als sie aufs Bett kroch, bis sie in seiner Nähe saß.

Magie konnte nicht mehr erreichen, als die Wirkung von Kräuterheilmitteln zu konzentrieren, die Heilung zu beschleunigen und Knochen zu richten – und selbst damit hatte Sham wenig Erfahrung. Gewappnet nur mit einer die Gesundheit fördernden Rune, einer auf der Kommode stehenden Flasche, die verdächtig nach Pferdeliniment roch, und einer verschwommenen Erinnerung daran, das Schlachtross ihres Vaters damit eingerieben zu haben, machte sich Sham an die Arbeit.

Kerim half ihr, als Sham ihn herumrollte, bis er mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag. Mit drei flinken Schnitten des Messers befreite sie ihn von seinem weichen Gewand. Sie warf die Fetzen gerade beiseite, als ein weiterer Krampf die immer noch beeindruckenden Muskeln in seinem Kreuz zucken ließ. Das Gewebe spannte sich unter der Haut an und verkrampfte sich, verrückte dabei die Wirbelsäule unnatürlich zur Seite.

Sie träufelte einige Tropfen der Flüssigkeit aus der Flasche auf ihre Hände und rieb sie in ihre Haut ein. Als sie spürte, wie sich die vertraute Wärme in ihren Händen auszubreiten begann, was darauf hinwies, dass es sich tatsächlich um ein Liniment handelte, verteilte sie die Flüssigkeit großzügig über Kerims Rücken und machte sich ans Werk.

»Erinnere mich daran, dich dem Stallmeister zu empfehlen«, sagte Kerim, die Stimme vor Schmerzen angespannt. »Du musst eine ehrlichere Arbeit als das Diebeshandwerk finden.«

»Ehrlich?«, hinterfragte Sham und presste die Daumen tief in seinen Rücken. »Ich bin die ehrlichste Diebin überhaupt, frag den Hai. Ich bezahle ihm ein Kupferstück die Woche dafür, dass er es bestätigt.«

Kerims Gelächter wurde von einem Japsen unterbrochen, als ein weiterer Muskel zuckte. Sham bewegte sich aufwärts zu der Stelle, wo es am schlimmsten zu sein schien, und träufelte sich mehr Liniment auf die Hände.

Irgendwo hatte sie gehört, dass es manchmal half, einen von Schmerzen gequälten Menschen abzulenken. »Ich habe einige deiner Fragen beantwortet. Wäre es in Ordnung, wenn ich dir jetzt die eine oder andere Frage stelle?«

Sham fasste sein Grunzen als Zustimmung auf und stellte das Liniment beiseite, weil sie fürchtete, ihm mit zu viel der Salbe die Haut zu verbrennen. Dann bearbeitete sie seinen Nacken. »Glaubst du wirklich, dass Altis erwacht ist? Dass eure Religion nicht bloß von Menschen erschaffen worden ist, damit sie deren Zwecken dient?«

Kerim holte tief Luft und verlagerte den Kopf. »Es war einmal«, begann er, als wäre er ein Geschichtenerzähler, »ein junger Knabe, der uneheliche Sohn einer bedeutenden Lady. Geboren wurde er, ein Jahr nachdem der Ehemann der Lady zu seiner endlosen Suche nach der vollkommenen Schlacht aufgebrochen war – neun Monate nachdem ein Krieger auf der Reise in ein anderes Land für kurze Zeit auf dem Landgut verweilte, wo die Lady lebte. Als unehelicher Sohn der Lady ohne Verwandtschaft zum Lord lernte der Junge schon früh, allen aus dem Weg zu gehen. Er war ein Niemand und weniger wert als nichts.

Eines Tages kam ein junger Mann in das Dorf in der Nähe des Landguts, wo der Junge wohnte. Er sprach von einer wundersamen Vision, die ihm von einem uralten Gott gesandt worden war; einer Vision, die vorhersagte, dass dieses kleine, vom Krieg zerrissene Land – die Heimat des Jungen – wieder mächtig sein würde, wie es das in ferner Vergangenheit gewesen war. Endlich bekam das Leben des Jungen eine Bestimmung. Er sollte ein großer Kriegsherr werden, und seine Familie sollte ihm Anerkennung für sein Können zollen.

In jener Nacht träumte er, dass er von Altis besucht wurde, der dem Jungen eröffnete, dass er in der Tat ein legendärer Krieger werden würde und dass er eine Invasionsstreitmacht anführen werde, wie man sie seit vielen Generationen nicht mehr auf dem Antlitz der Erde erlebt hatte. Altis bedachte den Jungen mit den Gaben der Behändigkeit und der Stärke, ließ ihn jedoch wissen, dass er sich auch selbst Fertigkeiten aneignen müsse. Es werde ein Mann zu ihm kommen, der in der Lage sei, ihn die Kunst des Krieges zu lehren.« Für einen Augenblick verstummte Kerims Stimme, als Sham den Druck in einem besonders verspannten Bereich verstärkte.

»Zwei Tage später tauchte ein Mann auf, der nach Arbeit suchte. Er war an sich Soldat, so sagte er, wäre aber bereit, in den Stallungen zu arbeiten, wenn das alles sei, wozu ein alter Mann noch tauge. Wie es der Zufall wollte, brauchte man in den Stallungen tatsächlich noch Helfer, und so erhielt er die Arbeit. Er war nicht groß und kräftig, dieser von Altis gesandte Mann, aber vielleicht hatte er gerade deswegen viel Zeit damit verbracht, sich mit der Kampfkunst zu beschäftigen. Er brachte dem Jungen bei, wie und – noch wichtiger – wann man in die Schlacht zieht. Dieser Junge, das war ich. Als dann Altis’ Prophet zum Volk von Cybelle kam, ging ich zu ihm und folgte ihm, wohin er mich führte. Ich kämpfte für Altis mit dem Feuereifer, den nur ein Junge aufzubringen vermag. Für ihn wurde ich zum Leoparden. So wie du daran glaubst, dass es Magie wirklich gibt, glaube ich, dass es Altis gibt.«

»Du besitzt nichts von den Dingen, die man bei den meisten Anhängern von Altis findet«, merkte sie an. »In diesem Flügel gibt es keine Altäre. Und wie du Hohepriester Brath verehrst, habe ich ja gesehen.«

Kerim schnaubte, was vermutlich ein Lachen sein sollte. »Altis gibt es wirklich, aber er ist nicht mehr mein Gott. Mit dem Alter lernt ein Mann einige Dinge, wenn er Glück hat. Eines Morgens wachte ich auf, sah ein mit Leichen gepflastertes Feld und hörte, wie der Prophet jenes blutige Feld Altis widmete. Ich fragte mich, was Altis getan haben mochte, um die Leben so vieler Menschen zu verdienen, und ob er mir einen Gefallen damit getan hatte, den Leoparden zu erschaffen, der für dermaßen viel Blutvergießen gesorgt hatte. Trotzdem brachte ich zu Ende, was ich begonnen hatte, und kämpfte bis zum letzten Gefecht.

Nachdem es vorbei war – so vorbei, wie ein Krieg es nur je sein kann –, berief mich der Prophet zu sich und forderte mich auf, eine Belohnung zu nennen. Es ist nicht weise, ein solches Angebot auszuschlagen. Verweigert man eine Belohnung, fragt sich der Herrscher nur, ob man nicht nach noch Höherem strebt – beispielsweise nach seinem Rang.«