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Als sie beobachtete, wie die orangefarbenen Flammen über den Stuhl leckten, dachte sie erneut an die Warnung des Selkies: … mehr, als es seit tausend Jahren etwas begehrt hat.

Sie sprach einen Zauber, der etwaige zusätzliche Runen wie jene aufdecken würde, die sie an Kerim entdeckt hatte, aber es gab keine weiteren im Raum. Eine Bündelungsrune, die gerade nicht benutzt wurde, war weit weniger mächtig als eine selbsttätige Rune und würde sich ihrem Zauber nicht einfach offenbaren, genauso wenig wie jede andere schlichte Rune.

Es gab keinen Grund, eine zweite Bündelungsrune zu vermuten. Solche Runen wurden selten benutzt, und zwar aus demselben Grund, aus dem Hausgeister gemieden wurden – wurden sie zerstört, konnte der Magier, der sie geschaffen hatte, schwer verletzt werden. Unabhängig davon: Wenn das Selkie des Vogts richtiglag, war Kerim für den Dämon wichtig. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schritt zurück zum Bett.

»Shamera, warum hast du meinen Stuhl in den Kamin geschoben?« Kerims Stimme klang geradezu unnatürlich vernünftig.

Ohne ihm Beachtung zu schenken, zerrte Sham an dem schweren, daunengefüllten Bezug, der sich am Fußende des Bettes gebauscht hatte. Sie untersuchte ihn gründlich, bevor sie ihn zu Boden warf. Verwünschungen murmelnd begann sie, die Laken wegzureißen, und ihre Hand berührte einen Fetzen des Gewands, das Kerim getragen hatte. Mit ihren verstärkten Sinnen vermochte sie die in den Stoff eingearbeitete Magie beinahe zu sehen.

Die Rune an dem Gewand erwies sich als harmloser; keine Bündelungsrune, sondern eine weitere Bindungsrune. Sie war auch wesentlich schlichter als jene, die an Kerim selbst geprangt hatte. Es handelte sich um ein Symbol der Art, wie man es an einem Tier anbringen würde, damit es nicht davonstreunte. Sie wusste, dass es viel einfacher war, eine solch schlichte Rune in ein stärkeres, mächtigeres Symbol zu verwandeln, als zu versuchen, von Grund auf eines zu erschaffen. Die wahrhaft großen Magier, das war ihr völlig klar, hatten regelmäßig Runen von einer Oberfläche auf eine andere übertragen. Doch das Wissen darum war im Verlauf der Zeit verloren gegangen. Aber vielleicht kannte der Dämon die Methode ja noch. Bis zum Morgengrauen hätte Kerim wieder verhext sein können.

Als Sham mit den Resten von Kerims Gewand auf dem Weg zum Kamin durch das auf dem Boden angehäufte Bettzeug stapfte, stieß ihr Fuß das Messer aus den Falten des Bezugs und ließ es klirrend über den Boden schlittern. Sie hob es auf und setzte den Weg fort.

Die Flammen züngelten infolge der Magie, mit der Sham sie zuvor genährt hatte, immer noch hoch. Als sie zusätzlich das Gewand erhielten, verfärbten sie sich violett und schossen mit solcher Gewalt durch den Rauchabzug empor, dass sich monatealte Asche löste. Der in den Kamin herabrieselnde Ruß wurde von den unnatürlich heißen Flammen verzehrt. Dadurch entstand ein Schauer schillernder Funken, der wie Tausende Sternschnuppen anmutete.

Sham setzte dazu an, zum Bett zurückzukehren, als sie das leise Schrammen der ›Geheimtür‹ hörte, die sich hinter ihr öffnete. Mit der Geschwindigkeit eines unbedingten Reflexes sprang sie zur Seite und hob das Messer in Kampfhaltung an, als sie sich der klaffenden Öffnung in der Wand zudrehte.

Einen Atemzug lang geschah nichts, und sie trat vorsichtig einen Schritt auf den dunklen Gang zu. Das leichte Funkeln von Licht auf Metall war ihre einzige Warnung, als plötzlich ein Schwert durch die Luft schnellte.

Verzweifelt hechtete sie zur Seite und rollte sich über einen hüfthohen Tisch, um diesen zwischen sich und den Besitzer des Schwertes zu bringen. Als ihr Angreifer auf sie zuschritt, zeichnete sich sein Gesicht deutlich im Schein des Feuers ab.

»Ven?«, stieß Kerim ungläubig hervor.

Trotz des Wissens, dass es sich unmöglich um den Bruder des Vogts handeln konnte, konnte Sham nichts an dem Mann entdecken, das unnatürlich wirkte. Da war nicht einmal die Aura von Magie, die sie gespürt hatte, als der Dämon sie neulich in ihrem Zimmer angegriffen hatte.

»Was willst du?«, fragte sie, schnappte sich einen schweren, lederbezogenen Schild von der Wand und hievte ihn dem Golem entgegen, als sie versuchte, mehr Abstand zwischen sich und die Kreatur zu bringen. Das Messer, das sie in der Hand hielt, eignete sich zwar zum Werfen, aber sie wollte es nicht dafür verwenden und so ihre einzige Waffe verlieren.

»Mein. Er ist mein«, zischte die Kreatur, die sich mit Lord Vens Körper kleidete, schlug den Schild mühelos beiseite und rutschte über den Tisch hinweg, der ihr den Weg versperrte.

»Nein«, widersprach Sham, als das Wesen im geübten Ansturm eines Kriegers auf sie zuhielt.

Sie wich drei Schritte zurück und zerknüllte gleichzeitig mit einem Hauch Magie den Teppich unter den Füßen ihres Angreifers. Er stolperte zwar, fing sich jedoch schneller, als sie gehofft hatte: Viele Golems gebärdeten sich äußerst schwerfällig – dieser nicht.

Indem sie herumwirbelte und sich duckte, wich sie ihm aus, und es gelang ihr, ihm mit dem Messer den Arm aufzuritzen, als sie an ihm vorbeihuschte. Sie sah Blut, wusste allerdings, dass der Treffer mehr an Glück denn an Können ihrerseits gelegen hatte.

Er hatte den Vorteil der größeren Reichweite und überlegener Kraft. Shams gemeine Messerstecherfähigkeiten waren bedeutungslos, es sei denn, sie wagte den Versuch, seine Verteidigung zu durchbrechen und ihn in den Nahkampf zu verwickeln. Dass unverhältnismäßig große Körperkraft zu den Eigenschaften eines Golems gehörte, ließ sie eine solche Verzweiflungstat erst gar nicht unternehmen. Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken verwandelte ein einziger Hieb des Schwertes einen robusten Eichenholzstuhl in einen zerbrochenen Schatten seiner selbst, und sie beschloss, es stattdessen mit Magie zu versuchen.

Sie begann, einen Bann zu weben, der bewirken sollte, dass sich die Kleider an seinem Leib versteiften und ihn so gefangen setzten. Doch es erwies sich, dass sie dafür eine Spur zu langsam war. Lord Ven stürmte vor und schwang das Schwert auf ihre Kehle zu. Zwar gelang es ihr, den Streich mit dem Messer abzulenken, aber die Wucht des Aufpralls verdrehte ihr schmerzhaft das Handgelenk.

Sham verlor die Herrschaft über die von ihr angesammelte Magie, und der bestickte Stuhl, der nahe des Kamins stand, ging in jähen Flammen auf. Sie wich einen raschen Schritt zurück, und ihr Ellbogen knallte schmerzhaft gegen die Wand – es gab keinen Platz mehr für einen Rückzug.

Schwer atmend duckte sich Sham unter Lord Vens zweitem Hieb hindurch. Als sie unter der Klinge hindurchhuschte, kehrte er den Schwung um und erwischte sie mit dem Schwertknauf heftig an der Rückseite des verletzten Oberschenkels. Der Hieb schleuderte sie zu Boden, wo sie mit betäubender Wucht mit dem Kinn voraus landete.

Da sie mit dem Gesicht nach unten zum Liegen kam, entging ihr, was genau sich als Nächstes ereignete, aber es ertönte ein schriller Aufschrei, gefolgt vom Geräusch scharfen Metalls, das sich in Fleisch bohrte. Hastig robbte Sham vorwärts und drehte sich herum.

Lord Ven stand ihr zugewandt und hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Etwas Dunkles ragte aus seiner Brust. Hinter ihm wankte unstet Kerim – aber er hielt sich ohne Hilfsmittel aufrecht. Sham sprang auf die Beine, als der Vogt in die Knie brach. Schweißperlen auf seiner Stirn zeugten von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, sich so lange auf den Füßen zu halten.

Die Kreatur des Dämons sackte schlaff nach vorn. Das mächtige blaue Schwert wurde aus dem Rücken gepresst und gab ein lautes Klirren von sich, als es auf dem Boden landete. Sham starrte auf den regungslosen Körper und rang atemlos nach Luft.

»Bist du auch nicht verletzt?«, stieß Kerim keuchend hervor.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, und das habe ich dir zu verdanken. Viel länger hätte ich mich gegen die Kreatur nicht mehr wehren können.« Sie entschied sich bewusst für die Bezeichnung ›Kreatur‹, um Kerim daran zu erinnern – so es denn nötig sein mochte –, dass es sich bei dem Geschöpf, das er gerade getötet hatte, nicht um seinen Bruder handelte.