Man erzählte sich auch Geschichten von Toten, die den Strand entlangspukten und unter dem Knarren des trocknenden Holzes der Dockpfeiler nach ihren Angehörigen suchten. Darin verbarg sich genug Wahrheit, um nachts alle bis auf die verzweifeltesten Gossenplünderer fernzuhalten. Bei Tag bot sich der Sand des Geiststrandes als vielversprechendes Jagdgebiet für all jene an, die bereit waren, mit anderen Strolchen um die Schätze zu kämpfen, die das Meer zurückließ.
Als die westlichen Docks noch in Betrieb gewesen waren, hatte die riesige Glocke auf den Klippen geläutet, wenn das Wasser zurückzuweichen begann, und die wenigen Schiffe, die sich auf ein Wettrennen mit den Gezeiten eingelassen hatten, setzten hastig die Segel. Ihre Kapitäne konnten dann nur hoffen, nicht zu lange gewartet zu haben und gestrandet zu sein. Ihre Schiffe wurden zerstört, sobald die Flut einsetzte und ungewöhnlich heftige, allzu oft zerstörerische Wellen die Bucht binnen weniger Augenblicke zurückeroberten.
Manche behaupteten, es sei Magie, die bewirkte, dass eine so dramatische Ebbe das Wasser der Bucht fast vier Faden tief absinken ließ, doch der Alte Mann hatte es anders erklärt. Es hatte etwas mit dem Zusammentreffen von Tiefseeströmungen und den mächtigen Wellenbrechern zu tun, die diese Bucht von Landsend schützten, wie Sham sich erinnerte.
Es war lange her, seit die Glocke zuletzt geläutet hatte, denn die cybellischen Oberherren bevorzugten die seichte Bucht auf der Ostseite der Halbinsel, auf der Landsend lag. Ihnen widerstrebten die Gefahren der Geistebbe, und Fegfeuer, früher lediglich ein kleiner Makel in der Mitte der Stadt, hatte seinen aussätzigen Mantel rasch über die aufgegebenen westlichen Docks ausgebreitet. Die schwere Glocke hatte sich vor vielen Jahren aus ihrer Halterung gelöst, war im Meer gelandet und vom Sand verschluckt worden, aber der Rahmen, in dem sie gehangen hatte, stand immer noch.
In der Nähe der Docks ragten jetzt höhere Klippen auf, die wesentlich größer wirkten als während der gewöhnlichen Gezeiten. Sham bahnte sich den Weg durch die Felsen und legte sich schließlich auf den Bauch, um einen Vorsprung unter den Klippen zu erreichen.
Dort hing gut verborgen eine verrottete Leiter, die ihren Fortbestand eher Shams Magie als dem verbliebenen Zusammenhalt von Holz und Seil verdankte. Sham benutzte die Leiter, um die schleimüberzogenen Klippen fast ganz hinunterzuklettern. Von der letzten Sprosse hing sie an den Armen, bevor sie sich zwei Körperlängen tief auf den weichen Sand darunter hinabfallen ließ.
Prüfend ließ sie den Blick über den Strand wandern und hielt nach etwaigen Raubtieren Ausschau, die hier manchmal jagten. Allerdings herrschte im Schatten der Klippen solche Dunkelheit, dass sie ohnehin kaum etwas hätte erkennen können, bis es sie bereits erreicht hatte. Zwar war sie selbst noch nie auf jagende Wesen gestoßen, aber sie war oft genug über Stellen gestolpert, wo eindeutige Spuren zurückgeblieben waren.
Sie zog die Schatten enger um sich und fand schließlich den Eingang zu dem Höhlensystem, das die uralten Kalksteinfelsen zerklüftete, entstanden in unzähligen Jahren, während derer das Wasser auf die Felswand eingewirkt hatte.
»Was ist das?«, fragte sie und streckte sich, um die Finger auf die Ränder der Runen zu legen, die eine der Öffnungen kennzeichneten.
Maur, dessen kastanienbraunes Haar an den Schläfen ergraut war, lächelte auf sie herab. »Schutzbanne, Kind. Um Menschen fernzuhalten.«
Kurz dachte sie darüber nach. »Sie sind nicht vollständig, oder?«
Erfreut kauerte sich der Magier neben sie. »Wie würdest du sie fertigstellen?«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Muster vor ihr und zeichnete eine Rune unter der letzten vorhandenen. Als sie fertig war, flammte Magie auf, und sie riss die Finger zurück. Die Öffnung verfestigte sich, bis sich Shamera einer Wand gegenübersah – dort wo zuvor eine Höhle gewesen ist.
»Gutes Mädchen«, meinte Maur lachend. Er stand auf, zerzauste ihr mit einer Hand die Haare und hob mit der anderen die Abwehrzauber auf.
»Wer hat sie hier angebracht, Meister?«, wollte sie wissen.
»Also, das ist eine hörenswerte Geschichte«, erwiderte er und ging in den Tunnel voraus. »Zum ersten Mal bin ich als junger Mann auf diese Höhle gestoßen. Hast du je die Geschichten über Gold-Jo gehört?«
Sie legte den Kopf schief und grinste. »Wer hat das nicht? Es gibt nicht viele Diebe, die so …« – hastig verwarf sie das Wort, das sie von den Männern ihres Vaters aufgeschnappt hatte, und ersetzte es durch ein weniger unanständiges – »… äh … unbesonnen sind, den König in seinen eigenen Gemächern zu berauben.« Sie verstummte und dachte darüber nach, was sie gerade gesagt hatte. »Hier hast du die verlorene Krone des Königs gefunden?«
Maur lächelte.
»Ich dachte, das hättest du mit Magie vollbracht.« Einen Augenblick lang war sie enttäuscht, zumal der Fund der Krone in ganz Südwald als Beweis für Maurs magische Kräfte angepriesen wurde.
»Magie«, erwiderte Maur und tippte auf die Runen, »Scharfsinn und ein wenig Glück sind immer mächtiger als Magie allein. Vergiss das nie. Außerdem fand ich die Reste von Gold-Jo neben der Krone; nach all den Jahren war nicht viel von ihm übrig. Es hat so ausgesehen, als hätte er sich zu viel Zeit dabei gelassen, die Krone einzulagern, und saß dann in der Höhle fest. Angesichts der Brandmale in der Höhle und seiner Knochen würde ich sagen, er hat zu teleportieren versucht und dabei mehr Magie angesammelt, als er bewältigen konnte – die Geistebbe kann in dieser Hinsicht manchmal eigenartig sein. Alles in allem ist es aber ein besserer Weg abzutreten, als zu verdursten.«
»Er hatte demnach Glück und verfügte über Magie«, meinte Sham langsam, »aber an Scharfsinn hat es ihm gefehlt, wenn er sich hier versehentlich eingeschlossen hat.«
Maur nickte. »Vergiss das nicht, Kind. Vertraue nie auf nur einen der drei Teile. Und halte dich nie zu lange in den Höhlen auf.«
Sobald sie den Eingang durchquert hatte und einige Schritte in die Höhle dahinter getreten war, beschwor sie ihr Magierlicht. In dessen Schein bahnte sie sich den Weg durch die feuchten Tunnel nach oben, bis sie die Flutmarke passierte. Die kleine Grotte, in der sie ihre Schätze verwahrte, lag deutlich höher als die höchste Marke, die das Wasser je erreicht hatte.
Sie legte die Münzen in dem geölten Lederbeutel zu dem beträchtlichen Haufen, der sich bereits angesammelt hatte. Auch andere Dinge befanden sich in der Höhle. Sham kniete sich hin und löste eines der Wachstücher, die ihre Schätze vor Feuchtigkeit schützten. Als sie damit fertig war, hielt sie einen kleinen Schemel in den Händen.
Große Füße in sauber gestopften, feuchten Wollsocken ruhten auf dem abgenutzten Schemel in der Nähe des Feuers im Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Wärme ließ leichten Dampf von der Wolle aufsteigen, als ihr Vater mit den Zehen wackelte und den mit Krumen übersäten Holzteller beiseitelegte.
Sein blondes Haar, vom selben Farbton wie das ihre, wurde von einer roten Schleife des Lieblingskleids ihrer Mutter zurückgehalten. Sein Kettenhemd, das er nicht abgelegt hatte, galt als das beste seiner Art, wie es sich für den Hauptmann der Leibgarde des Königs geziemte. Über den Metallgliedern trug er einen weinrotfarbenen Waffenrock aus Samt; ein Ärmel zerrissen, wo ein Schwert den Stoff durchtrennt hatte. Unter dem Riss konnte sie den fleckigen Rand eines Verbands erkennen.
»Danke, Liebes, obwohl ich nicht damit gerechnet hätte, dich zu sehen. Ich dachte, der Hexer hätte dich mit Arbeit eingedeckt.«