Kerim schluckte, stellte jedoch nicht die Frage, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Stattdessen sagte er: »Ist er tot?«
»Der Golem? Er war nie lebendig, schon vergessen? Ich vermute, dass er noch einsatzfähig ist – sonst wäre der Dämon nie das Wagnis eingegangen, ihn aus diesem Raum wegzubefördern.«
Kerim hatte die Augen wieder geschlossen; sein Mund bildete eine verkniffene Linie, die Hände ruhten gezwungen lasch auf dem Boden, als er leise sagte: »Ich kann zum ersten Mal seit Monaten meine Füße spüren, und die Kälte ist verschwunden. Aber ich habe immer noch wenig Herrschaft über meine Beine, und nach wie vor verspüre ich Schmerzen. Wird es wieder schlimmer werden?«
Sham rieb sich mit den Händen die Augen wie ein müdes Kind, danach gelang es ihr, genug Magie für den kurzen Zauber aufzubringen, der ihr etwaige magische Bande anzeigen würde, die nach wie vor zwischen Kerim und dem Dämon bestanden.
»Er hat keine Macht mehr über dich«, verkündete sie schließlich. »Morgen säubere ich deine Gemächer von etwaigen Rückständen seines Einflusses. Bis dahin solltest du dir einen anderen Platz zum Schlafen suchen. Was den Rest angeht …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin keine Heilerin, aber es würde mich überraschen, wenn du in der Lage wärst, sofort aufzustehen und herumzulaufen. Ich bin durch und durch erstaunt darüber, dass es dir überhaupt gelang, den Golem anzugreifen. Du solltest doch so gut wie ich selbst wissen, dass es genauso verheerend wie die Verletzung selbst ist, herumzuliegen und auf Heilung zu warten.«
Kerim nickte knapp. »Holde Lady, würdest du dann bitte Dickon holen und ihn Talbot herbringen lassen? Es gibt heute Nacht noch viel zu tun – und ich denke, wir vier müssen einen Maßnahmenplan entwickeln.«
Sham nickte und mühte sich auf die Beine. Sie setzte sich in Richtung der Tür in Bewegung, bevor sie sich mit Verspätung daran erinnerte, dass sie nach wie vor nichts als ihr Nachtkleid trug. Sie hob den Bettbezug vom Boden auf und wickelte ihn um sich wie einen Morgenrock, bevor sie das Zimmer verließ.
Als sie durch den Gang trottete, kam ihr der Gedanke, dass Dickon der Dämon sein könnte. Er kannte sich in der Feste hervorragend aus. Und gehörte er nicht zu den von Kerim Erwähnten, die Altis nicht huldigten? Vor seiner Tür blieb sie stehen und zögerte mit dem Anklopfen.
Der Boden fühlte sich kalt unter ihren nackten Fußsohlen an, und Sham schauderte. Doch sie kam zu dem Schluss, dass sie sich nur in den Wahnsinn triebe, wenn sie versuchte, herauszufinden, wer der Dämon war, indem sie sich auf willkürliche Mutmaßungen verließ. Also zwang sie sich, an die Tür zu pochen. Dickon öffnete kurz nach dem ersten Klopfen, gekleidet in einen Morgenrock.
»Herrin?«, fragte er höflich und ließ sich äußerlich in keiner Weise anmerken, dass er es ungewöhnlich fand, um diese Zeit von einer weitläufig mit Blut bespritzten Frau geweckt zu werden, die einen ziemlich großen Bettüberzug trug.
Sham zog den dicken Überzug enger um sich, als könne sie dadurch ihre Füße wärmen oder Dämonen abwehren. »Lord Kerim möchte, dass du Talbot aus seiner Unterkunft holst und mit ihm in die persönlichen Gemächer des Vogts kommst.«
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Dickon und verlor einen Atemzug lang seine berufsbedingte Unverbindlichkeit.
Sie schüttelte den Kopf. »Im Augenblick ist alles in Ordnung. Aber … du könntest vielleicht ein Bettgewand für Kerim mitbringen.«
Dickon musterte einige Lidschläge lang eingehend ihr Gesicht, bevor er nickte und die Tür schloss. Vermutlich um sich anzuziehen.
Als Sham die Gemächer des Vogts wieder betrat, war es Kerim gelungen, sich auf einen Stuhl hochzuziehen. Mit dem Kinn auf den Fäusten schaute er auf, als sie eintrat.
»Geh dich anziehen«, schlug er vor und schwenkte eine Hand in Richtung des verhangenen Durchgangs zu ihrem Zimmer. »Ich rechne damit, dass es eine lange Nacht wird, und die kannst du genauso gut in etwas Warmem verbringen.«
Sham duckte sich wieder unter dem Wandbehang hindurch und öffnete ihre Truhe. Sie sah keine Notwendigkeit, ein Kleid zu tragen, also holte sie stattdessen ihre zweitbeste Arbeitskleidung hervor und schlüpfte hinein. Anschließend frisierte sie sich mit einer Bürste die Haare und wusch sich die Hände.
Unmittelbar bevor sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, erhaschte sie im Spiegel einen Blick auf sich und lachte. Nachdem sie auf den Golem eingestochen hatte, musste sie sich wohl mit der Hand über die Wange gefahren sein, denn eine handflächenbreite Blutschliere erstreckte sich darauf vom Ohr bis zum Kinn. Abermals war sie beeindruckt von Dickons gefasstem Verhalten, als sie an seine Tür geklopft hatte.
Gesäubert und angekleidet kehrte Sham mit dem Bettüberzug in Kerims Gemächer zurück und fand den Vogt schlafend vor. Sie legte das Bettzeug auf den Boden und suchte sich leise einen Stuhl in der Nähe der Kleiderschränke. Shamera rutschte mit dem Hintern zum vorderen Rand der Sitzfläche, legte die Füße auf ein Möbelstück in günstiger Nähe hoch und gönnte sich ein gemütliches Nickerchen.
Ein leises Klopfen an der Tür weckte sie, doch bevor sie aufstehen konnte, rief Kerim: »Herein!«
Dickon trat ein, gefolgt von einem beunruhigt wirkenden Talbot. Unmittelbar hinter der Schwelle hielten sie inne und betrachteten das heillose Durcheinander, das aufzuräumen sich weder Kerim noch Sham die Zeit genommen hatten. Stühle, Tische und Glasscherben lagen über den Boden verstreut. Talbot kniete sich neben einen dunklen Fleck und tippte einen Finger hinein.
»Blut«, stellte er nachdenklich fest und rieb den Finger am Hosenbein.
»Nehmt euch Stühle, alle beide«, befahl Kerim knapp. »Dickon, ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn du mein Schwert reinigen und zurück in die Scheide stecken könntest. Ich würde es ja selber putzen, allerdings bezweifle ich, dass ich es im Augenblick besonders ordentlich hinbekäme.«
»Selbstverständlich, Herr«, erwiderte Dickon.
Er reichte Kerim ein sauber zusammengelegtes Nachthemd, bevor er das Schwert aufhob und mit einem Stück Stoff zu wienern begann, das er einer Schublade entnahm. Talbot zog zwei Stühle neben Kerims Sitz und nahm auf einem davon Platz, während sich Kerim in Dickons Nachthemd mühte.
»Sosehr es mir widerstrebt, das zuzugeben, Talbot«, begann Kerim ernst, sobald alle saßen, »aber du hattest recht: Wir haben wirklich einen Magier benötigt.«
Dickon hörte auf, das Schwert zu polieren, und bedachte den Vogt mit einem entsetzten Blick, bevor er anklagend in Shams Richtung schaute. Sie grinste ihn an und deutete auf sich, um ihm unnötigerweise zu zeigen, dass sie den erwähnten Magier verkörperte.
Kerim wandte sich an seinen Kammerdiener. »Dickon, ist dir in den letzten Tagen eine Veränderung am Verhalten meines Bruders aufgefallen?«
»Nein, Herr«, lautete die augenblickliche Antwort.
Kerim nickte und rieb sich müde die Schläfen. »Dachte ich auch, aber ich konnte nicht sicher sein. Ich habe festgestellt, dass meine Aufmerksamkeit nachgelassen hat, seit ich an diesen Stuhl gefesselt bin.«
Talbot und Dickon folgten Kerims Blick zum Kamin, wo die metallischen Überreste seines Rollstuhls einsam und verlassen inmitten der herunterbrennenden Flammen standen.
Kerim räusperte sich. »Nun ja, das scheint im Augenblick nicht das Problem zu sein, oder? Lasst mich ganz am Anfang beginnen, damit Dickon genauso viel weiß wie alle anderen. Euch allen ist bekannt, dass mir die willkürlichen Morde, die in den vergangenen Monaten stattgefunden haben, Kopfzerbrechen bereiten. Als der Mörder anfing, sich verstärkt Höflingen zuzuwenden, wurde offensichtlich, dass er sich am Hof auskennt – sonst hätte jemand bemerken müssen, wie er durch die Gänge wandert.«
»Ich dachte, dein Selkie-Stallbursche hätte mehr mit dieser Erkenntnis zu tun gehabt als die Gewohnheiten des Mörders«, merkte Sham an.
Kerim lächelte matt. »Ja, ich schätze, es war gut, dass wir auf ihn gehört haben, nicht wahr? Talbot hat vorgeschlagen, dass es vorteilhaft sein könnte, wenn wir die Häuser der Adeligen ebenso wie die Wohngemächer in der Feste selbst durchsuchen. Natürlich hätte ich das auch offiziell veranlassen können, nur hätte das unnötige Panik und entbehrliche Verärgerung ausgelöst. Talbot meinte, wir könnten einen Dieb herholen. Ich war damit einverstanden, und er wandte sich an die Flüsterer der Straßen, um einen geschickten Dieb zu finden, bei dem man sich darauf verlassen kann, dass er nicht mehr tut, als nur nachzusehen.«