Sham stand auf und verneigte sich feierlich.
Der Vogt lächelte abermals matt und fuhr fort. »Laut den Flüsterern hegt Shamera einen persönlichen Groll gegen den Mörder. Eines seiner Opfer war ein enger Freund von ihr, und sie hatte ohnehin bereits selbst nach ihm gesucht. Wir haben beschlossen, sie in die Rolle meiner Mätresse schlüpfen zu lassen, um ihr einfachen Zugang zu mir sowie zum Hof zu ermöglichen. Sowohl Shamera als auch Talbot vertreten die Auffassung, dass der Mörder ein Dämon ist. Nicht die Kreaturen, gegen die wir im Sumpf gekämpft haben, Dickon – nein, ein echtes magisches Geschöpf.«
Dickon schnaubte verächtlich und schüttelte traurig den Kopf.
Kerim lächelte. »Das dachte ich zunächst auch. In ihrer zweiten Nacht hier wurde Shamera vom Mörder angegriffen, bekam ihn aber nicht deutlich zu sehen.«
»Die Schnitte, die ich genäht habe, stammten von einem Messer oder einem Schwert; daran war nichts magisch«, warf Dickon kurz ein.
Sham senkte dramatisch die Stimme. »Dämonen sind durch und durch böse, ausgesprochen klug, und sie können Magie besser anwenden als die meisten Zauberer. Sie altern nicht. Sie jagen Menschen der Ernährung und des Vergnügens halber, wenngleich man sich erzählt, dass sie auch Tiere töten. Sie stammen aus einer anderen Welt ähnlich jener, in der die Götter leben, und sie können nur hierher gelangen, wenn sie von einem Magier beschworen werden. Und diese pestverseuchte Kreatur hat mich mit einem Messer angegriffen.«
»Danke«, sagte Kerim mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ich bin sicher, du versuchst, hilfreich zu sein, aber Dickon würde es vermutlich ansprechender finden, wenn du die Dramatik auf ein Mindestmaß beschränkst.«
Sham bemühte sich, reumütig dreinzuschauen.
»Zum Zeitpunkt des ersten Angriffs«, fuhr der Vogt fort, »dachte ich auch noch, es wäre bloß ein Mensch, der Shamera töten wollte. Ich sah nur die Messerwunden und nahm an, der Mörder hätte sich sein nächstes Opfer ausgesucht – es passte zu seinem Muster, alle acht oder neun Tage zu töten. Heute Nacht jedoch hat Shamera einen Beweis entdeckt, der mich davon überzeugt hat, dass sie und Talbot recht haben.« Kerim verstummte kurz, doch davon abgesehen ließ er sich keine Gefühlsregung anmerken, als er weitersprach. »Sie hat den Leichnam meines Bruders gefunden, Lord Ven. Ich habe ihn selbst untersucht, und er ist eindeutig seit mehreren Tagen tot.«
»Aber das ist unmöglich«, ergriff Dickon das Wort. »Ich habe ihn erst heute Abend gesehen, als ich Lady Shamera geholt habe.«
»Und dennoch«, gab Kerim zurück. »Sein Leichnam ist im Versammlungsraum neben Shameras Kammer. Dickon, du und Talbot, ihr habt beide genug Schlachten miterlebt, um zu wissen, wie eine Leiche nach ein paar Tagen aussieht; nachdem wir hier fertig sind, könnt ihr euch gerne selbst Gewissheit verschaffen.«
Er holte Luft. »Nachdem ich Ven gesehen hatte, dachte ich, dass Sham und Talbot näher an der Wahrheit sein könnten, als ich vermutet hatte. Als uns der Mann, der das Gesicht meines Bruders trug, später heute Nacht angriff, war ich restlos überzeugt. Sham glaubt, die Kreatur, die uns angegriffen hat, war ein Simulakrum – ein vom Dämon belebtes Geschöpf, das die Identität seiner Opfer annehmen kann. Zusammen ist es Sham und mir gelungen, es zurückzuschlagen.
Unabhängig von der Natur des Mörders haben wir es mit mehreren Problemen zu tun. Das Erste davon ist der Leichnam meines Bruders. Wir sind nicht die Einzigen, die erst unlängst mit Lord Ven gesprochen haben. Wenn wir seinen Körper, so wie er ist, den Priestern übergeben, werden sie auf jeden Fall die Unstimmigkeit zwischen dem Zeitpunkt seines Todes und seinem letzten Auftreten bemerken. Die Unruhen vergangenes Jahr in Fegfeuer werden nur ein harmloser Abklatsch der Hexenjagd sein, die erst stattfindet, wenn sich herumspricht, dass ein Mörder frei herumläuft, der die Gestalt jedes beliebigen Menschen annehmen kann.«
»Besteht denn die Möglichkeit, mit den Priestern vernünftig zu reden? Oder kann man sie bestechen, damit sie Stillschweigen bewahren?«, fragte Sham.
Kerim schüttelte den Kopf, doch es war Talbot, der sie aufklärte. »Unser kleiner Priester, Bruder Fykall, könnte es geheim halten, wenn es nicht ausgerechnet der Bruder des Vogts wäre, der die Lebenssegel gestrichen hat … äh … gestorben ist. So jedoch wird der Hohepriester persönlich den Leichnam vorbereiten wollen, und er hat mit Lord Kerim noch eine Rechnung offen. Es würde ihn ungeheuer freuen, wenn er den Propheten dazu bringen kann, Lord Kerim aus seinem Amt zu entfernen und ihn durch jemanden zu ersetzen, der Altis mehr zugetan ist. Ein großer Aufstand könnte ihm dafür den nötigen Wind in den Segeln verschaffen.«
Kerim lehnte sich auf dem Stuhl vor. »Wir brauchen eine Möglichkeit, um zu verschleiern, wie lange Ven schon tot ist.«
»Wir könnten einen Brand inszenieren«, schlug Dickon vor.
Kerim schüttelte den Kopf. »Wo? Mein Bruder ist selten irgendwo in der Stadt gewesen, und ich bezweifle, dass es innerhalb der Festung einen Ort gibt, der heiß genug brennen kann, um seine Überreste zu vernichten, ohne dabei jemand anderen zu verletzen.«
»Wir könnten ihn ein paar Tage liegen lassen«, meinte Talbot.
»Nein«, widersprach Shamera. »In diesem Klima wird die Leiche schon sehr bald anfangen, zu verwesen. Es wäre auch immer noch zu offensichtlich, wie lange Lord Ven schon tot ist.«
»Aber es könnte klappen, wenn sich niemand genau daran erinnert, wann er Lord Ven zuletzt gesehen hat«, ergänzte Kerim, der jedoch unübersehbar beim Gedanken zögerte, den Leichnam seines Bruders so lange achtlos liegen zu lassen.
»Nein«, meldete sich Dickon zu Wort, konnte jedoch nicht mehr als diesen Einwand beisteuern. Sham wusste, dass ihm Kerim mehr am Herzen lag als der Zustand des Leichnams von Lord Ven.
»Ich werde nicht in einem Zimmer neben dem verrottenden Körper eines Toten schlafen können«, log Sham überzeugend.
Dickon nickte anerkennend über solch damenhafte Befindlichkeiten.
Kerim warf ihr seinerseits einen ungeduldigen Blick zu. »Du hast Ven recht bereitwillig dort zurückgelassen, als du dachtest, wir könnten das Wissen um seinen Tod benutzen, um dem Dämon eine Falle zu stellen.«
Sham tat seinen Einwand mit einer beiläufigen Geste ab. »Das war etwas anderes«, entgegnete sie.
»Was ist mit Magie?«, warf Talbot ein. »Gibt es keine Möglichkeit, dass du Lord Vens Körper wieder steif vor Leichenstarre werden lassen kannst?«
Sham legte nachdenklich den Kopf schief. »Doch, schon. Und ich könnte auch den Blutgeruch verschleiern. Aber davor muss ich mich eine Stunde ausruhen.«
Dickon sah sie an. »Hast du wirklich eine Möglichkeit, das Aussehen eines Körpers zu verändern?«
Sham grinste ihn vergnügt an und antwortete so, wie sie es immer tat, wenn jemand derart offenkundig nicht an Magie glaubte. »Ich habe einige Tricks im Ärmel, die ein cybellischer Wilder allerdings wohl nicht verstehen würde.«
»Taschenspielertricks«, meinte Dickon in nachdenklichem Tonfall dazu.
Irgendwann im Verlauf der vergangenen Stunde hatte Dickon einen Großteil seines Dienergebarens abgelegt. Sham musterte ihn mit verengten Augen. Vielleicht war sie nicht als Einzige gut darin, in andere Rollen zu schlüpfen.
Nach einem weiteren Atemzug zuckte Dickon mit den Schultern. »Wenn es klappt, spielt es keine Rolle, ob es bloße Täuschung ist oder nicht. Aber«, fügte er aufrichtig gekränkt hinzu, »wenn du mich je wieder als Cybeller bezeichnest, Mädel, dann wasch ich dir den Mund mit Seife aus. Ich bin Jarneser.« Womit er nur ein anderes Land im Osten nannte. »Cybeller sind unkultivierte, Rinde fressende Wilde.«