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Als der letzte Bote aufgebrochen war, sah Dickon seinen Herrn stirnrunzelnd an. »Solltet Ihr Lady Tirra die Neuigkeit nicht lieber persönlich mitteilen?«

Kerim zuckte mit den Schultern. »Lord Ven ist mein Bruder, aber er ist auch die neueste einer langen Reihe von Leichen, die unter den Höflingen auftauchen. Es mag Sham gelungen sein, den Zeitpunkt seines Todes zu verschleiern, doch allein der Umstand, dass er tot ist, wird die Unruhe in der Stadt verstärken. Ich muss mich umgehend mit dem Beirat treffen, um so viele nachteilige Auswirkungen wie möglich rechtzeitig zu verhindern.«

Sham, die das Geschehen unbeachtet von einem Sitz in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes aus beobachtet hatte, vermutete, dass der Vogt das Treffen als Ausrede benutzte, um Lady Tirra nicht die Neuigkeit vom Tod seines Bruders überbringen zu müssen. Nicht dass sie ihm daraus einen Vorwurf machen konnte; sie würde auch nicht diejenige sein wollen, die der Adeligen mitteilen musste, dass ihr Lieblingssohn tot war.

»Dickon, du musst Boten mit der Nachricht, dass der Beirat in den Versammlungssaal berufen worden ist, zu den Ratsmitgliedern schicken, die außerhalb der Mauern der Feste leben. Wenn das erledigt ist, gehst du zu den Gemächern jener, die hier wohnen, und teilst ihnen dasselbe mit.«

»Ja, Herr.« Dickon verschwand leise wieder hinaus.

»Willst du, dass ich gehe?«, fragte Sham.

Müde zuckte Kerim mit den Schultern. »Es spielt keine Rolle. Wenn du bleibst, stärkt das deinen Rang. Sei gewarnt, dass du ein Ziel für Bestechung oder Drohungen werden könntest, wenn der Hof glaubt, du stehst mir nah genug, um meine Entscheidungen zu beeinflussen.«

Sham lächelte. »Wenn du denkst, dass ich bisher noch nicht bestochen worden bin, dann bist du schwer im Irrtum. Lord Halvoks Jungvolk ist zwar geschickt darin, die Versuche von Höflingen zu vereiteln, die mich in die Ecke drängen wollen, aber deine Adeligen haben ziemlich listige Umwege gefunden. Es tauchen regelmäßig Geschenke und Botschaften in meiner Wäsche, unter meinem Kissen und auf den Tabletts mit Essen auf. So bin ich schon zu einigen sehr feinen Schmuckstücken gekommen. In der Regel werden sie von äußerst geschickt formulierten Mitteilungen begleitet. Am besten hat mir eine gefallen, in der unterschwellig angedeutet wurde, dass bestimmte dankbare Parteien mich großzügig beschenken würden, wenn ich nur ein unschuldig aussehendes Pulver in eines deiner Getränke schmuggeln könnte.«

»Gift?«, fragte Kerim, der jedoch keineswegs erschrocken wirkte.

Sham grinste. »Nein. Irgendjemand hat Zugang zu einem echten Magier, es war nämlich ein Liebestrank.«

»Ein was?«

Sham lachte über seine Empörung – eine Empörung, die er nicht gezeigt hatte, als er noch annahm, es wäre Gift gewesen. »Keine Sorge. Liebestränke wirken nur vorübergehend, und es ist recht einfach, ihnen zu widerstehen. Doch das muss diejenige, die ihn geschickt hat, nicht unbedingt wissen. Um auf der sicheren Seite zu sein, wartest du einfach ein paar Tage, wenn du plötzlich Lust auf jemanden verspürst, bevor du an die entsprechende Dame herantrittst. Wenn das Gefühl dann noch anhält, ist es keine Magie.«

Kerim zog die Augenbrauen hoch. »Was hast du mit dem Pulver gemacht?«

Sham sah ihn unschuldig an und lächelte.

»Shamera!«

»Beruhige dich«, sagte sie. »Ich hab es ins Feuer geworfen, obwohl ich in Versuchung war, den größten, hässlichsten Kerl deiner Leibgarde zu suchen und es ihm zu geben. Ich dachte, es könnte nützlich sein, in Erfahrung zu bringen, in wen du dich verlieben solltest. Aber Talbot war überzeugt davon, du würdest nichts davon halten.«

Kerim hob eine Hand ans Gesicht und neigte den Kopf. Seine Schultern zitterten vor müdem Gelächter. »Du hättest das wirklich getan, oder? Ich kann es geradezu vor mir sehen. Karson, der mit seinen zweihundert Pfund hinter der Tochter irgendeines Adeligen herjagt.«

»Ist Karson derjenige mit den fehlenden Vorderzähnen?«

»Das ist er.«

»Nee«, entgegnete Sham, »den hätte ich nicht genommen – er ist verheiratet. Ich habe mit Talbot über die ersten paar Kostbarkeiten geredet, die ich in meinem Wasserglas gefunden hatte.« Sie zeigte ihm die Diamant-Solitäre in ihren Ohren. »Talbot hat mir vorgeschlagen, sie einfach zu behalten, und gemeint, letzten Endes würde man es aufgeben. Er sagte, das habe Dickon auch getan, und Dickon bekommt schon lange keine Geschenke mehr aus unbekannten Quellen.«

Kerim zog eine Augenbraue hoch und fragte: »Hast du auch Drohungen erhalten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich vermute, zu gegebener Zeit kommt das noch.« Als er besorgt dreinschaute, lachte sie. »Mein lieber Vogt, ich habe mein halbes Leben in Fegfeuer verbracht. Ich kann dir versichern, dass es dort wesentlich gefährlicher als am Hof ist.« Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: »Selbst wenn derzeit ein Dämon hier jagt.«

Als Dickon zurückkehrte, begann er, Kerims Schrank nach Kleidung zu durchsuchen. Als er sie dem Vogt brachte, hielt Sham ihn auf und untersuchte jedes Stück eingehend. Als sie damit fertig war, schleuderte sie die Tunika ins Feuer.

»Aber Herr!«, klagte Dickon zu Kerim gewandt.

Kerim schüttelte den Kopf. »Such eine andere Tunika.«

Dickon runzelte zwar die Stirn, brachte aber eine zweite Tunika und präsentierte sie Shamera mit einer Verneigung. Als sie ihm das Kleidungsstück zurückgab, deutete er stumm zum verhangenen Durchgang. Mit einem unterschwelligen Lächeln ging Sham, während sich Dickon darum kümmerte, den Vogt anzukleiden.

Da der Rollstuhl im Kamin stand, trugen Talbot und Dickon Lord Kerim in den Versammlungssaal neben seinen Gemächern. Das war zwar alles andere als würdevoll, aber außer Sham bekam es niemand mit. Als die Ratsmitglieder nach und nach eintrafen, saß Kerim auf einem der Tür zugewandten Stuhl mit hoher Rückenlehne. Sham stand hinter ihm.

Abgesehen von Halvok, dem einzigen Ratsmitglied aus Südwald, schenkte der Beirat Shams Gegenwart keinerlei Beachtung. Was auch daran liegen mochte, dass ihr schlichtes Baumwollkleid bestenfalls aufgrund seiner Gewöhnlichkeit bemerkenswert war. Wahrscheinlicher jedoch überschattete der Tod des Bruders des Vogts die Bedeutung seiner unkonventionellen Mätresse. Lord Halvok aber lächelte, als er sie erblickte.

Kerim wartete, bis alle Ratsmitglieder Platz genommen hatten, bevor er das Wort ergriff. So müde und trauernd er sein mochte, verkörperte er doch eindrücklich den Leoparden.

»Meine Herren«, begann er, »wir haben ein Problem. Wie Euch bereits mitgeteilt worden ist, wurde heute Abend der Leichnam meines Bruders entdeckt. Er wurde auf sehr ähnliche Weise wie Lord Abet und die anderen Adeligen in den vergangenen Monaten getötet. Da sein Körper in keinem Zustand ist, um ihn öffentlich zu zeigen, habe ich angeordnet, ihn in Leichentücher hüllen zu lassen. Für Sonnenuntergang wird der Scheiterhaufen vorbereitet. Ich brauche Eure Vorschläge, meine Herren, wie sich die Angst am besten eindämmen lässt, die ein weiterer solcher Todesfall verursachen wird. Um zu gewährleisten, dass Ihr alle umfassend über die Gesamtheit der Angelegenheit Bescheid wisst, wird Euch Meister Talbot erklären, was wir bislang wissen.«

Sham gefiel die tadellose Ansprache, die geschickt von der unschicklichen Eile bei der Behandlung des Toten ablenkte.

Der Vogt nickte Talbot zu. Der ehemalige Seemann stand auf und lieferte eine kurze Zusammenfassung über die vorangegangenen vergleichbaren Mordfälle, ferner einen teils erfundenen Bericht darüber, was bisher getan worden war, um den Mörder zu fassen. Als letztlich eine sorgsam formulierte Trauerrede und die öffentliche Erklärung geschmiedet wurden, die der Hohepriester vor dem versammelten Hof verlesen sollte, wurden die Dachfenster bereits heller.

Nachdem die anderen gegangen waren, trugen Talbot und Dickon den Vogt in Dickons Zimmer, damit er dort ein paar Stunden schlafen konnte. Sham wollte ihn nicht in seine eigenen Gemächer lassen, bevor sie Gelegenheit gehabt hätte, die Räumlichkeiten gründlicher zu untersuchen.