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Sie selbst kehrte ebenfalls ins Bett zurück und träumte zunächst unruhig von Toten und Blut, bevor sie in einen tieferen Schlummer sank, der bis kurz vor dem Abendessen währte. Ihr Schlafrhythmus war noch nie besonders regelmäßig gewesen, deshalb erwachte sie rundum erfrischt, als Jenli an die Tür klopfte. Hastig verdeckte sie die neuen blauen Flecken und alte Wunden mit einem Trugbann, bevor sie die Aufforderung zum Eintreten rief.

»Tut mir leid, Euch zu stören, Herrin«, sagte die Zofe, »aber der Vogt hat mich geschickt, um dafür zu sorgen, dass Ihr bereit seid für das Staatsbankett, das vor Lord Vens Einäscherung stattfindet.«

Sham bedachte die Frau mit einem scharfen Blick. Der Umgang mit Jenlis Onkel hatte sie einen gesunden Respekt für die Gerissenheit gelehrt, die sich hinter einer nichtssagenden, unscheinbaren Fassade verbergen konnte. Jenlis große, braune, kuhähnliche Augen erwiderten ihr Starren blinzelnd, und Sham wandte sich kopfschüttelnd ihrer Garderobe zu.

Sie kramte im Schrank herum und achtete nicht auf Jenlis Stöhnen, als sie Kleider nach links und rechts verschob, bis ein weiteres schwarzes Stück auftauchte, auf das ihre Wahl fiel. Ursprünglich hatte sie es zwar nicht für Trauerzwecke gedacht, aber es würde sich auch dafür bestens eignen.

Als Jenli an den unzähligen winzigen Knöpfen zu arbeiten begann, welche die beiden schmalen Ärmel verschlossen, legte sie verwirrt die Stirn in Falten. »Herrin …«, sagte sie zögerlich.

»Ja?« Sham bewunderte sich vor dem Spiegel.

»Das ist ein Kleid, das selbst meine Großmutter für allzu züchtig halten würde, Herrin.«

Sham lächelte verschlagen und erwiderte: »Ich denke, es wird einen feinen Gegensatz zu den gewagteren Kleidern bilden, die unlängst in Mode gekommen sind. Findest du das nicht auch?«

Sham mochte eine ausreichende Menge Schlaf abbekommen haben, aber es bedurfte nur eines einzigen Blickes ins Gesicht des Vogts, als er sie im Saal des Staatsbanketts begrüßte, um zu wissen, dass ihm das weit weniger gelungen war.

Er führte ihre Hand an den Mund und hieß sie mit allem Ernst willkommen, den der Anlass gebot. Jemand hatte einen neuen Rollstuhl fertiggestellt, wenngleich nicht genug Zeit geblieben war, ihn zu färben oder die Räder mit Leder zu bedecken, damit sie mehr Haftung erzielten – stattdessen war das Metall nur grob eingekerbt worden.

»Du kommst gerade zur richtigen Zeit«, meinte Kerim, als sie auf dem gepolsterten Stuhl neben ihm Platz nahm. »Du hast verpasst, wie sich die Geier um die Knochen versammelt haben.«

Sham nickte anmutig. »Ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt hat sich bei meiner Arbeit schon oft als äußerst nützliche Gabe erwiesen.«

Sein Mund verzog sich nicht ganz zu einem Lächeln. »Kann ich mir gut vorstellen.«

Die Zeit für persönliche Gespräche endete, als Lady Tirra ihren Platz an Kerims anderer Seite einnahm. Ihre Haut war zu dunkel, um wirklich blass zu wirken, und ihre Züge waren gefasst – doch sie sah um zehn Jahre gealtert aus. Sham saß still auf ihrem Sitz und verspürte keinerlei Wunsch, die trauernde Matriarchin in irgendeiner Weise zu ärgern oder zu reizen. Überall im Saal vermengten sich Getuschel und Gemunkel zu einem geradezu ohrenbetäubenden Lärm, nur an der hohen Tafel herrschte Totenstille.

Schließlich stellte sich der Hohepriester vor Kerims Tisch und wandte sich dem Rest des Raumes zu. Als das Getöse zu einem verhaltenen Gemurmel abschwoll, ergriff er das Wort.

»Durchlauchten! Wir haben uns hier versammelt, um das Verscheiden eines strahlenden Sterns zu betrauern. Durch ihn haben wir ein Licht weniger, das uns leitet, und sein Tod ist ein herber Verlust für uns alle. Heute Abend werden wir den letzten matten Schimmer seines Glanzes bezeugen, wenn seine sterbliche Hülle zu Asche wird. Lasset uns gedenken der Helligkeit, die er in unsere finstere Welt gebracht hat. Lasset uns beweinen die Vorzeitigkeit, mit der er von uns genommen wurde.«

Kerim versteifte neben Shamera den Körper und murmelte leise etwas Garstiges, Sham fasste sich nachdenklich leicht an die rot bemalten Lippen. Das war nicht die Rede, die Kerim und seine Berater vorbereitet hatten.

»Dies sind dunkle und sorgenvolle Zeiten«, fuhr der Hohepriester fort, seine Rhetorenstimme wirkte auf die Versammelten ein. »Lord Ven ist nicht der erste unserer Brüder, dessen Leben so grausam ausgelöscht wurde. Dennoch verbleiben sie alle ungerächt, und der Mörder wandelt immer noch unter uns.«

Mit einer Stimme, die nur Shameras Ohr erreichte, flüsterte Kerim: »Wenn er so weitermacht, kommt es zu einem Aufstand, und mein Bruder wird nicht als Einziger auf dem Scheiterhaufen enden.«

Es war sein grimmiger Tonfall, der Sham den Blick durch den Saal wandern und die Gefühlsregungen erkennen ließ, die sich rasch ausbreiteten und aufbauschten: Flammen des Grauens und der Entrüstung, geschürt von der Ansprache des Hohepriesters.

Sham tat das Erstbeste, das ihr einfiel. Es gab einige kleine Zauber, die zwar nie offiziell gelehrt wurden, die aber jeder junge Lehrling von einem älteren beigebracht bekam. Einfache Kniffe, beispielsweise, wie man Milch sauer werden ließ. Sie erforderten zum Glück nicht viel Magie, denn sie fühlte sich noch müde von ihren früheren Kämpfen.

»… jemand oder etwas tötet …« Plötzlich begannen die Augen des Hohepriesters zu tränen, und die tadellos geschulte Stimme stockte, als Shams kleiner Zauber Wirkung zeigte.

Er räusperte sich und setzte neuerlich an. »Tötet …«

Sie fügte dem Zauber mehr Kraft hinzu.

Der Hohepriester fing zu husten an. Ein Mann in brauner Robe rannte mit einem Kelch voll Wasser auf ihn zu. Es schien zu helfen, bis der Hohepriester erneut zu sprechen versuchte.

Kerim runzelte die Stirn und schaute Sham an. Was immer er in ihren Zügen sah; er entspannte sich ein wenig, faltete lose die Hände und legte sie auf den Tisch.

Als augenscheinlich wurde, dass der Hohepriester nicht in der Lage sein würde, seine Rede zu beenden, nahm sein zierlicher Stellvertreter Fykall den Platz ein und neigte das Haupt wie in tiefer Trauer.

»Durchlauchten!«, begann er, »Wir teilen unseren gemeinsamen Kummer, und doch müssen wir ihn, der wie so viele andere vor uns gegangen ist, auch feiern. Das Beste daran, sterblich zu sein, ist, dass wir die Gewänder dieses Lebens für das nächste abstreifen können.« Auch er wich vom vorgegebenen Wortlaut ab, aber sogar Sham, so unerfahren sie mit Volksverhetzung sein mochte, sah ein, dass die Menschenmenge zuerst in den Griff gebracht werden musste.

Der kleine Priester hob den Kopf und ließ den Blick prüfend über die Versammelten wandern. Shamera konnte beinahe hören, wie der Hohepriester mit den Zähnen knirschte, als Fykall fortfuhr. »Heute Abend müssen wir unsere Ängste verdrängen, denn nur so können wir das Verscheiden von Lord Ven so betrauern und zugleich feiern, wie es sich geziemt. Eine Stütze dabei ist uns das Vertrauen, das wir alle in die Weisheit eines Mannes setzen, der Altis in der Vergangenheit so treu und gut gedient hat. Wie der Prophet dereinst sprach: Was sollen wir uns fürchten, wenn der Leopard auf dem Felde ist? Altis ruft, und Lord Kerim antwortet mit Gebrüll, um den Sieg aus dem klaffenden Schlund der Niederlage zu reißen. Mögen die mordlüsternen Schakale heulen, so viel sie wollen, wenn die Schlacht vorüber ist, wird allein Altis’ Leopard auf dem Schlachtfeld seiner Feinde noch stehen!«

Im Augenblick murmelte Altis’ Leopard insgeheim etwas über Feuergruben und Kochtöpfe, wie Sham mit gut verborgener Belustigung bemerkte. Als die Worte des Priesters mit tosender Zustimmung aufgenommen wurden, verstummte er jedoch. Nachdem sich die Menge beruhigt hatte, trat der Priester einen Schritt zurück und zur Seite, womit er unzweifelhaft die Bühne für Kerim räumte.

Der Vogt schob seinen Stuhl ein wenig zurück und benutzte den Tisch, um sich auf die Beine zu stemmen; daraufhin erhob sich ein zweites Mal Jubel.