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»Das haben wir alle, Lady Tirra«, erwiderte Shamera keineswegs unfreundlich. »Aber wir alle in diesem Raum haben Lord Vens Leichnam gesehen, als er vergangene Nacht gefunden wurde. Er war seit mehreren Tagen tot.«

Lady Tirra ballte die Hände zu Fäusten, ihre Züge jedoch blieben kühl und abweisend. »Meister Talbot, hast du das auch gesehen?«

Talbot verneigte sich. »Ja, Lady Tirra. Es ist so, wie Lady Shamera sagt. Und ich bin hinlänglich mit dem Tod vertraut.«

»Und wie soll das erklärbar sein?«, verlangte Lady Tirra zu erfahren und wandte sich wieder an ihren Sohn. Die Stichflamme ihrer Wut war verpufft. Zurück blieb nur eine sehr müde Frau, die längst nicht mehr jung wirkte.

Kerim rieb mit den Händen über die glatt gehobelten Armlehnen seines Stuhls und erwiderte unumwunden: »Dämonen.«

Seine Mutter starrte ihn schweigend an.

»Lady Tirra«, meldete sich Sham wieder zu Wort. »Ich versichere Euch, dass es sie gibt; fragt einen beliebigen Südwäldler aus Eurem Bekanntenkreis – vielleicht den Magier, der einen Laden in der Straße der Bäcker führt und Eure Zofe mit dem Balsam beliefert, den sie Euch in die Haare reibt. Dämonen leben unter Menschen und machen Jagd auf sie. Wir haben Grund zu der Annahme, dass dieser Dämon unter den Höflingen weilt und so menschlich aussieht wie Ihr oder ich. Er hat mehr Menschen als nur Euren Sohn getötet, aber wir sind guter Dinge, dass uns Lord Vens Tod zumindest zu ihm führen könnte.«

Lady Tirra wurde noch eine Spur blasser. »Und was sind Eure besonderen Fähigkeiten, derer sich Lord Kerim bedient?«

»Magie«, antwortete Sham leise und löschte mit einer Geste alle Kerzen sowie das Feuer im Kamin, holte Schatten in den Raum, der nun nur noch von den Dachfenstern erhellt wurde.

Sie wartete einen Atemzug lang, dann hob sie die Hand und zog ein Magierlicht aus der Düsternis. Shamera wirkte auf die zunächst kleine Kugel ein, bis deren fahler Schein von einer eiförmigen Quelle ausging, so hoch wie sie selbst und doppelt so breit.

Anhand der Gegenstände, die Sham in den Privatgemächern von Kerims Mutter verstreut entdeckt hatte, als sie diese vor einigen Tagen durchsuchte, wusste sie, dass Lady Tirra von den Möglichkeiten der Magie gefesselt war. Wenn Sham überzeugend genug auftreten konnte, würde Lady Tirra in dem Glauben gehen, dass Ven tatsächlich von einem Dämon getötet worden war und dass Kerim sein Möglichstes tat, um diese Kreatur aufzuspüren. Um Kerims willen war es zu wichtig, dass Lady Tirra nicht weiter meinte, er hätte seinen Bruder gemeuchelt.

»Ich habe gehört, dass es im Osten keine Magie gibt«, sagte Shamera leise, »aber hier herrscht Magie in Hülle und Fülle neben anderen Dingen, die das landläufige Wissen übersteigen. Selkies tanzen in den Wellen des Meeres, Jauler heulen in den nördlichen Winden, Uriah schleichen im Großer Sumpf umher, und hier in dieser Feste wandelt nachts ein Dämon durch die Gänge.« Während sie sprach, ließ sie die Oberfläche des Magierlichts verflachen und schimmernde Bilder anzeigen, um ihre Worte zu veranschaulichen.

Sham hatte zwar noch nie selbst eine der Kreaturen gesehen, von denen sie redete, ausgenommen das Selkie, aber sie hatte Geschichten über sie gehört, seit sie ein Kind war. Aus diesen kindlichen Vorstellungen zeichnete sie lebensechte Bilder, mit denen sie den Trugspiegel nun erfüllte. Besonders beeindruckend geriet ihr der Dämon. Sham ließ seine Darstellung einige Atemzüge lang in der Luft schweben, damit die silbrigen Klauen und die sechs schaurigen gelben Augen ihre volle Wirkung entfalten konnten, bevor sie den Trugspiegel zurück zu einem schlichten Magierlicht schrumpfen ließ, so groß wie die Faust eines Mannes.

Sie schwenkte die Hand, und die Kerzen entzündeten sich von selbst wieder. Beim Kamin gestaltete sich das schwieriger, da ein Teil seiner Nahrung immer noch Rückstände von Magie enthielt, die nicht brennen wollte, aber letztlich fanden die Funken Halt, und das Feuer erwachte zu neuem Leben. Sham ließ das Magierlicht erlöschen.

Kerims Mutter schwankte und wäre gefallen, wenn Talbot sie nicht rasch aufgefangen hätte. Kerim versuchte, seinen Stuhl über den Haufen der Teile des zerlegten Bettes zu schieben, aber ein Rad verfing sich in einem Loch, und das Gefährt neigte sich gefährlich zur Seite.

»Talbot hat sie, verdammt. Wenn du nicht stehen bleibst, landen du und der Stuhl auf mir«, stieß Sham grunzend hervor, die eine Ecke des Stuhls gepackt hatte und sich dagegenstemmte, bis er zur Ruhe kam.

»Es geht ihr gut, Herr«, verkündete Talbot prompt, als er seine Last zum Sofa trug und behutsam darauf ablegte. »Im Gegensatz zu manch anderen anwesenden Frauen ist sie eine Dame mit zarten Empfindungen. Der Anblick dieses Dämons hätte gereicht, um so manchen ausgewachsenen Mann in Ohnmacht fallen zu lassen, geschweige denn eine durchlauchtige Lady.«

Beruhigt half der Vogt Sham, seinen Stuhl zurück zu der freien Stelle zu hieven.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Sham. »Bei der Darstellung des Dämons habe ich mich wohl ein wenig hinreißen lassen.«

»Konntest du die Rune unter dem Bett entfernen?«, fragte Kerim und bückte sich, um eines der dunklen Bretter beiseitezuschieben und sich einen Weg zum Sofa zu bahnen, auf dem seine Mutter ruhte. Dabei unterließ er es bewusst, sich hinsichtlich Shameras Entscheidung zu äußern, Lady Tirra von dem Dämon zu erzählen.

Sham nickte, ergriff ein Ende eines schweren Bettpfostens und rollte ihn weg. »Das sollte das letzte Zeichen gewesen sein. Ich fürchte, du bist dadurch ein wenig knapp an Kleidung …«

Der Vogt grunzte, als es ihm gelang, den Rest der Bretter zu einem vergleichsweise flachen Haufen zusammenbrechen zu lassen, über den er den Stuhl mit schierer Muskelkraft hinwegbugsierte. Sham zuckte bei den Kratzern zusammen, die von den scharfen Kanten der schmalen Metallräder in das edle polierte Holz geritzt wurden.

Talbot trat vom Sofa weg, als Kerim zu seiner Mutter rollte, sich über sie beugte und ihre Hand ergriff. Mit einer Stimme, die nicht weiter als zu Shams Ohren reichte, meinte Talbot: »Dafür, dass sie ihn ständig mit so viel Gift und Galle bespuckt, ist er sehr besorgt um ihr Wohlergehen.«

Sham betrachtete Kerim, wie er in der Nähe der ausgestreckt auf dem Sofa liegenden Gestalt von Lady Tirra saß. »Sie ist die einzige Familie, die er noch hat«, meinte sie schließlich und wandte sich ab, um mit dem Wiederaufbau des Bettes zu beginnen.

Wortlos half ihr Talbot, die schwere Grundplatte anzuheben und in Position zu bringen. Das Bett war alt und wies Einschnitte und Aussparungen auf, die es zusammenhielten wie einen der kunstvoll geschnitzten Zusammenbausätze, die auf den Jahrmärkten verkauft wurden. Schwitzend gelang es dem einstigen Seemann und Sham, mühsam den ersten der vier schweren Bettpfosten an seinen Platz zu hieven. Lange bevor sie auch nur halb mit dem Wiederaufbau des Bettes fertig wurden, schlug Lady Tirra die Augen auf, mühte sich in eine sitzende Haltung und stieß ungeduldig Kerims sie festhaltende Hände weg.

»Ihr glaubt also, dass Dämonen meinen Sohn getötet haben?« Lady Tirras Blick ruhte auf dem Boden, sodass ungewiss blieb, wen sie angesprochen hatte.

Es war Kerim, der sich zu einer Antwort aufraffte. »Ja, Mutter. Darüber hinaus glaube ich, dass der Dämon immer noch hier ist und nur darauf wartet, noch jemanden zu töten. Ich weiß nicht, wie er aussieht oder wie man ihn vernichten kann – ich weiß nur, dass es geschehen muss, bevor er wieder zuschlägt.«

Lady Tirra schaute auf. Ihre trockenen Augen suchten Shams Blick. »Warum habt Ihr mir das gesagt? Ich vermute, Kerim hätte es für sich behalten.«

Sham zuckte mit den Schultern und verfiel zurück in ihre Diebespersönlichkeit. »Es wurde deutlich, dass Ihr Lord Kerim als verantwortlich für Lord Vens Tod betrachtet habt. Ich fand das unnötig hart für Euch und ihn.«