Shamera grinste. »Maur hat mich heute von meinen Lehrlingspflichten entbunden, weil Mutter auf Verlangen des Königs dafür benötigt wird, die Damen des Hofs mit Zuckerbrot und Peitsche dazu zu bringen, sich zu benehmen.«
Ihr Vater lachte und schüttelte den Kopf. »Wenn jemand diese aufgescheuchten Hennen im Zaum halten kann, dann Talia. Während einer Belagerung gibt es nichts Schlimmeres als ein Rudel hilfloser Damen, die schnattern und …«
Seine Worte wurden durch einen Ruf des Gefechtshorns unterbrochen. Das Gesicht ihres Vaters erbleichte und nahm grimmige Züge an.
Er packte sie an den Schultern und stieß mit belegter Stimme hervor: »Du suchst dir einen sicheren Ort – einen der Tunnel, in denen die Kinder spielen – und gehst dort sofort hin! Hast du verstanden?«
Verängstigt durch die Furcht im Antlitz ihres Vaters nickte Shamera. »Was ist denn los?«
»Tu, was ich sage«, gab er herrisch zurück, zog die Stiefel an und griff nach seinen Waffen. »Geh und versteck dich, bis ich dich holen komme.«
Doch er war nie gekommen.
Behutsam wickelte Sham das Wachstuch wieder um den Schemel und stellte ihn beiseite. Das nächste Bündel, das sie auspackte, war erheblich größer – eine kleine, grob gearbeitete Truhe. Sie hob den Deckel hoch und gab so den Blick auf den Inhalt frei. Sham holte ein ausgebleichtes, scharlachrotes Band heraus, verschiedene Schmuckstücke, eine handflächengroße Glaskugel, die der Alte Mann benutzt hatte, damit seine Hände gelenkig blieben, und ein Kissen, feinsäuberlich mit Sternen und dem Mond bestickt – das Ergebnis ihres letzten Versuchs einer Näharbeit.
Unter dem Kissen befand sich eine weitere Holzkiste. Sham hob sie auf ihren Schoß und löste die Magie auf, die dafür sorgte, dass der Deckel geschlossen blieb. In der Kiste befanden sich mehrere Gegenstände, auf die sie im Zuge ihrer Tätigkeit als Diebin gestoßen war. Sie gehörten weder ihr noch dem Alten Mann, doch wie die Flöte verwahrte man sie besser außerhalb der Reichweite von Narren: eine Schale aus Gold und Porzellan, die jeden schleichend vergiften würde, der daraus aß, ein abgewetztes Armkettchen aus Silber, das seinen Träger vom Schlafen abhielt, und ähnliche Dinge. Sie setzte dazu an, die Flöte hineinzulegen, dann jedoch hielt sie inne.
Der Alte Mann besaß nichts aus der Zeit davor – nur die Flöte, die sie gerade in der Hand hielt. Das Gehöft würde warten müssen, bis sie das Geld beisammenhätte, aber die Flöte wollte sie ihm sofort geben. Sham steckte sie zurück in die verborgene Tasche. Dabei verspürte sie ein Aufflackern von Magie, das die Rückkehr der Flut ankündigte.
Sie zwang sich, das Siegel an der größeren Truhe sorgsam wieder anzubringen, doch kaum war sie damit fertig, wickelte sie hastig das Wachstuch darum und verließ die Grotte im Laufschritt. Schlitternd und rutschend raste sie durch die Tunnel hinaus zum Strand. Weit draußen konnte sie als Linie die weiße Gischt des zurückkehrenden Meeres erkennen.
Der Sand war weich vor Feuchtigkeit und sog an ihren fliehenden Füßen, brachte sie zum Stolpern und verlangsamte ihren Lauf. Das kurze Stück zur Leiter schien sich ewig hinzuziehen, und der Boden begann bereits zu zittern. Als sie an der Klippe unter der Leiter eintraf, konnte sie das Tosen des Meeres hören.
Die Seite der Klippe erwies sich als glitschig vor Nässe, und ohne den Strang aus Magie, der verhinderte, dass ihre Finger vom Fels abrutschten, hätte sie die Leiter nie erreicht.
»Magie«, stieß sie hervor, als sich ihre Hand um die unterste Sprosse der Leiter schloss, »und Glück als Ausgleich für mangelnden Scharfsinn – hoffe ich.«
Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren – sollte die Wand aus Wasser eintreffen, während sie sich noch auf der Leiter befand, würde sie gegen die Klippen geschmettert. Die Leiter erbebte unter der Wucht der zurückkehrenden Wassermassen, und Sham verstärkte ihre Bemühungen. Sie achtete nicht auf das Brennen der Muskeln ihrer Arme und Oberschenkel.
Der Wind schlug zuerst zu und schleuderte sie heftig gegen die harte Klippenwand. Sham erübrigte einen Blick über die Schulter zu dem auf sie zurasenden Wasser. Die weiß schäumende Masse ragte so hoch auf wie die Klippe, die sie erklomm, und rauschte schneller als ein Rennpferd über den Sand hinweg. Das Trommeln der Brandung glich dem Takt ihres Herzens. Sie konnte sich nicht gegen das breite Grinsen wehren, das ihre Lippen verzerrte, als sie hastig versuchte, außer Reichweite der Wellen zu klettern. Die Erregung, die das Wettrennen ums Überleben in ihr auslöste, half dabei, ihren Aufstieg zu beschleunigen.
Mit pochendem Herzen hievte sie sich auf den Gipfel der niedrigen Klippe, von der die Leiter nach unten führte. Dann drehte sie sich um und beobachtete, wie die mächtigen Wellen über die letzten Meter des Strands fegten. Der Lärm war gewaltig. Es wurde so laut, dass sie die Schwingungen in der Brust spürte, und sie atmete tief ein, um das Gefühl zu genießen.
Unwillkürlich sprang sie zurück, als das Meer mit einem hohlen Tosen, das den Boden erschütterte und Gischt hoch in die Luft spritzen ließ, gegen die Klippe brandete. Lachend zog sie den Kopf ein, um ihre Augen zu schützen. Das Salzwasser regnete ihr harmlos auf Haar und Schultern, als die Wellen zurückschwappten und erneut heranrollten.
Magie wirbelte über ihr und brachte Shams Herz vor Freude zum Jauchzen. Sie wurde vom Ozean selbst geformt und heraufbeschworen, und kein menschlicher Magier wäre in der Lage gewesen, ihre Macht zu verwenden, um daraus Banne zu bilden – aber Sham konnte sie fühlen und weidete sich an ihrer Herrlichkeit.
Sie war nicht sicher, was sie bewog, sich von den Wellen abzuwenden, aber sie erstarrte, als sie sah, dass noch jemand beobachtete, wie sich das Wasser an den Klippen brach. Der Mann hatte sie noch nicht bemerkt, da sie auf dem verborgenen Vorsprung unterhalb seiner Position kauerte. Das ohrenbetäubende Tosen der Brandung hatte jegliche Geräusche ihres fluchtartigen Aufstiegs übertönt. Wenn sie blieb, wo sie war, konnte sie wahrscheinlich verhindern, dass er überhaupt auf sie aufmerksam wurde. Doch die Magie des Wassers ließ sie unbesonnen werden. Sie schob sich weiter zum Rand des Vorsprungs und gestattete sich einen genaueren Blick auf den Reiter, der es wagte, Fegfeuer bei Nacht zu trotzen, um die Geistebbe zu sehen.
Im Gegensatz zu Sham befand sich der Mann auf offenem Gelände und zeichnete sich deutlich im silbrigen Mondlicht ab. Ein cybellischer Krieger, so glaubte sie, ausgestattet mit Waffenrock, Schwert und einem Schlachtross.
Für einen verwirrenden Atemzug schnürte ihr blankes Grauen die Luft ab, während sie ihn aus den Schatten anstarrte und keinen einzelnen Mann sah, sondern die blutigen Krieger, die einst die Feste eingenommen hatten. In dieser Nacht schien ihr die Vergangenheit zu nahe zu kommen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und ließ die Hände über die verschiedenen, an ihrem Körper versteckten Waffen wandern. Solchermaßen beruhigt warf sie einen genaueren Blick auf den Mann.
Das Kettenhemd, das an den Handgelenken und am Kragen unter dem Waffenrock hervorragte, war von höchster Güte. Die Glieder wirkten so fein, dass sie aus Stoff statt aus Metall gefertigt zu sein schienen. Der Waffenrock selbst wies eine dunklere Farbe auf. Der Mann stand leicht von Sham abgewandt, weshalb sie nicht erkennen konnte, welches Wappen er vorne trug. Ein wohlhabender Krieger also – und ein Narr.
Es war lange her, seit sie die Tochter des Hauptmanns der Wächter der Feste gewesen war, aber nicht so lang, dass sie vergessen hätte, wie man ein Pferd beurteilt. Sie ließ einen geübten Blick über dieses Tier wandern: ein edles Ross, von den geblähten Nüstern bis hin zu den langen, dunklen Haaren, die von den Knien zu den Hufen die Beine bedeckten. Nur ein Narr würde ein so offenkundig wertvolles Tier nachts durch Fegfeuer führen.
Der Hengst schnaubte und tänzelte zur Seite, als ihm der Geruch der salzigen Luft in die Nase stieg. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiß darin zu sehen war, und schüttelte wild die nasse Mähne. Dem Drang, verborgen zu bleiben, gab Sham nicht nach. Der Krieger verkörperte hier den Außenseiter, es gab für sie keinen Grund, unbemerkt bleiben zu müssen.