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»Alte Runen?« Er überlegte kurz. »Unter Umständen habe ich da tatsächlich etwas, das sich als hilfreich erweisen könnte.«

Er kniete sich hin, zog einen dünnen Band aus dem untersten Fach des Regals und brachte ihn Sham. »Das habe ich vor etlichen Jahren auf dem Markt erstanden. Es ist deutlich älter, als es aussieht, und es enthält Runen, die ich davor noch nie gesehen hatte.«

»Danke«, sagte sie und nahm das Buch entgegen.

»Du kannst auch zur Vordertür hinausgehen, wenn du willst.«

Sie drehte sich ihm zu und bedachte ihn mit einem neckischen Augenaufschlag. »Und jeden sehen lassen, wie die Mätresse des Vogts nachts Euer Haus verlässt? Ich finde einen anderen Weg hinaus, Herr.«

»Also beschwört Halvok keine Dämonen?«, fragte Kerim und stopfte ein weiteres Kissen hinter seinen Rücken, um sich höher zu stützen.

Sham, so müde, dass ihre Knochen regelrecht schmerzten, hatte Mühe, klar zu denken. Nachdem sie Lord Halvoks Heim verlassen hatte, war sie unmittelbar hergekommen, ohne zuvor einen sicheren Ort für ihre frisch erlangten Bücher zu suchen – für ein Werk über schwarze Magie hätte es ohnehin kein wirklich sicheres Versteck gegeben.

»Ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Wenn er Dämonen beschwört, ist er ein besserer Schauspieler, als ich es ihm zutraue, und er tut es nicht zu Hause.«

Kerim nickte. »Das genügt mir. Warum gehst du nicht schlafen, und wir sehen morgen weiter?« Sham salutierte verspielt und verließ sein Zimmer unter dem Wandteppich hindurch.

Allein in ihrer Kammer, verharrte Sham einen Atemzug lang in der Dunkelheit. Das Runenbuch bereitete ihr kein Kopfzerbrechen, doch sie wusste nicht recht, was sie mit dem anderen Band tun sollte. Obwohl sie den Schutzbann wieder daran angebracht hatte, sickerte die Signatur der schwarzen Magie heraus.

Seufzend legte sie das Buch auf der nächstbesten Fläche ab, die ihr unterkam, und packte das zweite, harmlosere Werk obenauf. Sie würde sich am nächsten Morgen darum kümmern. Dann zog sie die schmutzige Aufmachung aus – der Regen hatte die dicke Staubschicht in Matsch verwandelt – und warf die Kleidung in die Truhe. Als sie den Deckel schloss, ging ihr flüchtig der Schimmel durch den Sinn, den die Feuchtigkeit der Gewänder anlocken würde, doch sie fühlte sich zu müde, um sich damit zu befassen.

12

Das donnernde Hämmern an Kerims Tür war so laut, dass sich Sham jäh im Bett aufsetzte und einen leisen Fluch ausstieß. Dem Gewicht ihrer Lider nach schätzte sie, weniger als eine Stunde geschlafen zu haben. Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, dem Lärm keine Beachtung zu schenken und sich wieder hinzulegen, doch es schien ihr wert zu sein, der Sache auf den Grund zu gehen, wenn es sich um etwas handelte, das offenbar wichtig genug war, den Vogt zu einer solch unanständig späten Stunde der Nacht zu wecken.

Da sie wusste, dass ihr Eindringen unter Umständen nicht willkommen wäre, streckte sie sich auf dem Boden aus und hob den unteren Rand des Wandteppichs an, bis sie in Kerims Zimmer sehen konnte.

Kerim hatte bereits seinen Morgenrock übergestreift und benutzte seinen Kampfstab, um sich damit abzustützen, als er gequält durch den Raum humpelte.

»Ja?«, rief er, bevor er die Tür öffnete.

»Herr, Lady Tirra schickt mich, um Euch zu sagen, dass Lady Sky in Gefahr schwebt.«

Sham hörte, wie Kerim den Riegel seiner Tür aufschloss und die Angeln einmal kurz quietschten. Eine Truhe versperrte ihr die Sicht, weshalb sie sich auf ihre Ohren verlassen musste.

»Die genauen Umstände sind mir nicht bekannt, aber Lady Tirra scheint das Gefühl zu haben, es könnte etwas mit Lady Skys kürzlicher Fehlgeburt zu tun haben.« Der Stimme nach handelte es sich um einen äußerst jungen Boten.

Kerim tauchte wieder in Shams Blickfeld auf. Mit einem Grunzen ließ er sich in seinem Rollstuhl nieder und warf den Kampfstab aufs Bett. Ohne Zeit zu vergeuden, verließ er das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, sprang Sham auf die Beine, öffnete ihre Truhe und kramte durch die Unordnung, bis sich ihre Hand um feuchten Stoff schloss. Sie gab ihrer nassen Diebeskluft den Vorzug gegenüber einem Hofkleid. Erst als sie sich mit dem widerspenstigen Stoff abmühte, wurde ihr klar, dass sie die Truhe nicht hatte entriegeln müssen. Kaum hatte sie sich ordentlich angezogen, ließ sie die Hand auf den Deckel aus Leder und Holz niedersausen und versiegelte ihn mit einem Bann, statt sich mit dem Riegel zu plagen.

Dann öffnete sie rasch den Abschnitt der Täfelung, der zu den Geheimgängen führte, und huschte hindurch. Mittlerweile kannte sie diese Wege der Feste besser als die Korridore, durch die sich gewöhnlichere Menschen in dem Bauwerk von einem Ort zum anderen begaben. Nur dreimal musste sie Hauptgänge queren. Entweder Glück oder die späte Stunde bescherten ihr dabei menschenleere Flure, und es war weit und breit niemand zu sehen, als sie auf dem Weg zu Lady Skys Gemächern von einem Geheimgang zum nächsten huschte.

Wie bei den meisten bewohnten Räumlichkeiten erwies sich auch das Guckloch zu Lady Skys Schlafzimmer als versiegelt. Allerdings brauchte Sham kaum einen Hauch von Magie, um das Brett von der Wand zu ziehen. Bevor sie es vollends entfernte, löschte sie ihr Magierlicht. Zum Glück wohnte Lady Sky im dritten Stockwerk, wo alle unverheirateten Damen untergebracht waren. Hier oben gab es mehrere Fenster, die Mondlicht in den Raum scheinen ließen.

Beinahe hätte man meinen können, Lady Sky posiere für einen Künstler. Das silbrige Licht des Mondes spielte auf ihrem hellen Haar und liebkoste ihre zierliche Gestalt, die sich so schlank präsentierte, als wäre sie nie in anderen Umständen gewesen. Ihr weißes Nachtgewand aus Musselin ließ sie jünger erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und starrte auf einen Dolch hinab, den sie in beiden Händen hielt.

Sham konnte von ihrem Gesicht nur eine Ecke des Unterkiefers erkennen, dafür hatte sie freien Blick auf Lady Skys feingliedrige Hände, die den Dolch drehten und drehten, als untersuche sie das Messer auf einem Markt nach Makeln.

Sham begann, nach einer verborgenen Tür Ausschau zu halten, durch die sie in den Raum gelangen konnte. Fegfeuer hatte jegliches Mitgefühl beseitigt, das sie für Menschen gehabt haben mochte, die sich für den einfachen Ausweg entschieden, aber Lady Sky hatte als Ausrede zumindest ihre kürzliche Fehlgeburt: Es galt als allgemein bekannte Tatsache, dass Frauen unter solchen Umständen sehr gefühlsbetont wurden. Sky war von all den weiblichen Vertretern des Hofes, die Sham kennengelernt hatte, das, was einer Freundin noch am nächsten kam, und sie wollte nicht, dass ihr etwas zustieß. Sie untersuchte gerade einen Bereich, der aussah, als könnte er eine Öffnung verbergen, als sie Kerims Stimme vernahm. Schnell huschte sie zurück zum Guckloch und hielt ein Auge daran.

»Gib mir den Dolch, Sky.«

Die Tür konnte nicht verriegelt gewesen sein, denn Kerims Rollstuhl hatte im Raum unmittelbar hinter der Schwelle angehalten. Lady Sky hob den Dolch an, bis das Mondlicht auf der Klinge tänzelte.

»Der hat meinem Ehemann gehört«, verriet sie in geselligem Tonfall. »Er hat immer sorgfältig darauf geachtet, dass all seine Waffen scharf sind.«

»Sky, weißt du eigentlich, wie hart es ist, sich mit einem Dolch das Leben zu nehmen? Wenn man nicht genau weiß, was man tut, kann es Tage dauern, bis man an einer solchen Wunde stirbt. Ungeachtet Fahills lobenswerter Grundsätze sind Dolchverletzungen ausgesprochen schmerzhaft … und eine ziemliche Sauerei.« Kerim benutzte haargenau den gleichen Plauderton, als er seinen Stuhl mit einem leichten Stoß auf ihr Bett zurollte.

Vom Fenster wehte eine frische Brise herein, die den bescheidenen weißen Musselinstoff von Lady Skys Nachtgewand sanft gegen ihre Haut flattern ließ. Die Räder des Stuhls berührten den Rand des Bettes. Kerim wartete geduldig auf eine Erwiderung.

»Alle sterben sie«, sagte Lady Sky schließlich mit der leisen Stimme eines verwirrten Mädchens. »Meine Kinder, meine Eltern, mein Ehemann, Ven – einfach alle. Vielleicht bin ich verflucht. Hier sterben so viele Menschen – vielleicht hört das ja auf, wenn ich auch tot bin.«