Auf ein nahezu unsichtbares Zeichen des Reiters wirbelte das Pferd auf den Hinterbeinen herum, als der Mann Ausschau nach der Ursache für das Unbehagen des Tieres hielt. Der Hengst prustete feucht und ungeduldig und drehte sich einmal vollständig im Kreis, wodurch Sham das Wappen des Mannes endlich sehen konnte.
Beim Anblick des in die Seide gestickten silbernen und goldenen Leoparden stieß sie einen leisen Pfiff aus und berichtigte ihre Einschätzung des Mannes. Ein wohlhabender Krieger war er durchaus, aber kein Narr. Selbst die wackerste Gruppe von Strolchen würde es sich zweimal überlegen, den Leoparden von Altis anzugreifen, den Vogt von Südwald.
Lord Kerim, genannt der Leopard, herrschte über den Großteil von Südwald, und das im Namen der Stimme von Altis und des cybellischen Bunds, über den die Stimme den Vorsitz hatte. Bereits im zarten Alter von achtzehn hatte der Leopard eine Elitekampfeinheit, als Vorausabteilung des Einmarsches, durch den Großen Sumpf und einen beträchtlichen Abschnitt der Gebiete zwischen dem Sumpf und dem Westmeer geführt. Die Menschen redeten immer noch im Flüsterton über die Gerissenheit und das Können, die er dabei unter Beweis gestellt hatte.
Vor acht Jahren, als die Cybeller die Aufstände in Südwald so gut wie vollkommen niedergeschlagen hatten, hatte die Stimme von Altis Kerim dazu aufgerufen, ihr Vogt zu werden, verantwortlich allein dem Propheten höchstpersönlich gegenüber.
Kerim war weniger als ein Vierteljahrhundert alt gewesen, als er die Herrschaft über Südwald übernahm und daraus wieder ein blühendes Land formte. Mit einer Mischung aus Bestechung und Nötigung hatte er die Adeligen Südwalds und die Cybeller dazu gebracht, miteinander zusammenzuarbeiten – auf Gewalt musste er dabei nur ein- oder zweimal zurückgreifen.
Ob als Staatsmann oder Krieger, es gab sehr wenige Menschen, die sich mit dem Leoparden angelegt hätten, ohne es sich zuvor sehr gründlich zu überlegen. Sham hatte gerade entschieden, doch zu versuchen, unbemerkt zu entkommen, als sein Blick dem ihren begegnete.
»Ich sehe gern dabei zu, wenn die Nippflut einsetzt«, sagte er auf Südwäldisch. Fast ein Jahrzehnt in Südwald hatte den abgehackten Akzent, den Cybeller in der Regel in die Sprache einbrachten, so sehr abgeschwächt, dass man ihn ohne Weiteres für einen Einheimischen hätte halten können.
Sham wartete einen Augenblick, ohne sich zu rühren, überrascht von dem vom Vogt angeschlagenen geselligen Tonfall – immerhin sprach er mit einem derb gekleideten, nassen Gossenkind. Als sie schließlich befand, dass es sicher genug sei, kletterte sie die Felsen hinauf, bis sie sich auf einer Höhe mit ihm befand. Dabei kam ihr der Gedanke, dass dies eine vermutlich nie wiederkehrende Gelegenheit darstellte, den Cybeller anzugreifen. Sie sah den Vogt an und erinnerte sich an die Toten, die das Gelände der Feste übersät hatten, nachdem sie von den eindringenden Streitkräften eingenommen worden war. Unauffällig ließ sie die Hand zu dem an ihrem Unterarm befestigten, schmalen Dolch wandern.
Doch nicht nur die Vermutung, dass er durch und durch in der Lage sein würde, sich gegen einen solchen Angriff zu verteidigen, sorgte dafür, dass die Klinge blieb, wo sie war. Es lag auch an der Traurigkeit in seinen Augen und an den gequälten Linien um seine angespannte Kieferpartie – das helle Mondlicht brachte beides deutlich zur Geltung.
Einbildung, dachte sie verärgert bei sich, als sich der Winkel seines Kopfes änderte und Schatten seine Züge verbargen; doch der Eindruck blieb. Resignierend schüttelte sie den Kopf – wie ihr schon zuvor aufgefallen war, färbte die Sanftmut des Alten Mannes auf sie ab. Der Leopard war nicht bei der Armee gewesen, die in die Feste eingedrungen war, und Sham trug nicht genug Hass in sich, um jemanden zu töten, der ihr nichts getan hatte – auch wenn es sich um einen Altis anbetenden Cybeller handelte.
»Die Geistebbe ist schon beeindruckend«, gab sie ihm in unverbindlichem Tonfall und derselben Sprache recht, die er benutzt hatte, »aber wohl kaum wert, sich alleine durch Fegfeuer zu wagen.« Ihr Tonfall mochte unverbindlich sein, doch ihre Worte zeugten nicht von der Achtung, die er von anderen gewohnt sein musste.
Der Vogt zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick wieder den schaumgekrönten Wellen zu. »Manchmal werde ich der Menschen überdrüssig. Ich sah keine wirkliche Notwendigkeit dafür, eine Begleitgarde mitzubringen. Die meisten Bewohner hier stellen kaum eine Bedrohung für einen bewaffneten Reiter dar.«
Sham zog eine Augenbraue hoch und schnaubte in Richtung seines Profils; sie fühlte sich ein wenig beleidigt. »Typisch für einen hochmütigen Cybeller«, merkte sie an und beschloss, so weiterzumachen, wie sie begonnen hatte. Zu sehr widerstrebte es ihr, mehr als unbedingt notwendig zu katzbuckeln. »Nur weil du das behauptest, stimmt es noch lange nicht. Schakale reisen in Rudeln, und zusammen können sie einem Beutetier die Gedärme herausreißen, das viele Male so groß und stark wie ein Einzelner ist.«
Er drehte ihr das Gesicht wieder zu und bedachte sie mit einem Grinsen, das überraschend knabenhaft wirkte. »Schakale sind bloße Aasfresser.«
Shamera nickte. »Und nichtsdestotrotz wild. Bring ihnen nächstes Mal lieber nicht so viel Verachtung entgegen. Dein Pferd könnte jeden Halsabschneider in der Stadt ein Jahr lang ernähren.«
Er lächelte und tätschelte liebevoll den kräftigen Hals des Tieres. »Nur wenn es ihnen gelänge, es zu töten, und wenn sie beschlössen, es zu essen. Es würde ihnen nicht gelingen, es lange genug festzuhalten, um es zu verkaufen.«
»Zu deinem Leidwesen würden sie das aber nicht wissen, bis sie es versuchten.« Unwillkürlich ließ der Herrscher von Südwald Sham neugierig werden. Sie war noch nie einem Adeligen begegnet, ob aus Cybelle oder Südwald, der sich nicht beleidigt gefühlt hätte, wenn ihm jemand widersprach, der im besten Fall ein Bürgerlicher und wahrscheinlicher noch ein Verbrecher war.
»Warum bist du so besorgt um mein Los, Junge?«, fragte Kerim in mildem Tonfall.
»Bin ich nicht.« Sham grinste vergnügt und schauderte, als die Brise ihre nasse Kleidung erfasste. »Ich bin bloß besorgt um unseren Ruf. Wenn sich herumspricht, dass du Fegfeuer ohne einen Kratzer durchquert hast, wird jeder denken, er könnte dasselbe tun. Obwohl«, fügte sie nachdenklich hinzu, »das vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Ein paar auszunehmende Adelige könnten die Wirtschaftslage in der Gegend verbessern.«
Das Geräusch einer weiteren gegen die Felsen krachenden mächtigen Woge lenkte Kerims Aufmerksamkeit wieder auf das Meer, und Sham nützte die Gelegenheit, um den Herrscher über Südwald genau zu mustern; nun, da sie wusste, wer er war.
Obwohl sein Spitzname ›Leopard‹ lautete, hatte er wenig Katzenhaftes an sich. Da er auf seinem Pferd saß, ließ sich seine Größe schwer schätzen, doch er hatte einen Körperbau wie ein Stier – ungewöhnlich breite Schultern, vollgepackt mit Muskeln. Sogar seine Hände sahen kräftig aus – einer seiner Finger war größer als zwei von Sham. Wie bei seinem Pferd verschleierte die düstere Nacht auch die wahre Farbe seiner Haare, aber sie hatte gehört, dass sie dunkelbraun waren, wie die der meisten Cybeller. Seine Züge – Mund, Nase und Kieferpartie – präsentierten sich so breit wie sein Körper.
Während Kerim über das aufgewühlte Wasser starrte, wunderte er sich über seine Offenheit gegenüber diesem Südwaldjungen, der sich so unübersehbar unbeeindruckt von seinem Vogt zeigte. Derart freizügig hatte er sich mit niemandem mehr unterhalten, seit er das Militär aufgegeben und die Herrschaft über Südwald für den Propheten übernommen hatte. Die Einzige, die es wagte, ihn so zu schelten wie dieser Junge, war seine Mutter. Und der Junge tat es wenigstens ohne ihre Boshaftigkeit – wenngleich Kerim die anfängliche Handbewegung des Burschen hin zu seiner Armscheide keineswegs entgangen war. Auch den vornehmen Akzent des Jungen hatte er bemerkt, und er fragte sich, welcher Adelige aus Südwald einen Sohn haben mochte, der sich nachts in Fegfeuer herumtrieb.