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»Sky, das Sterben hört niemals auf.« Kerims Stimme ertönte zwar sanft, aber unerschütterlich. »Die einzige Gewissheit, die das Leben zu bieten hat, ist der Tod. Würden deine Eltern, würden Fahill oder Ven wollen, dass du ohne Grund stirbst? Sollte wirklich ein Mensch weniger um sie trauern und ein Mensch mehr zu betrauern sein? Fahill hat dich geliebt. Ich habe Seite an Seite mit dem Mann gekämpft, und er war ein zurückgezogen lebender, verbitterter Krieger, bis du zu ihm gekommen bist. In den wenigen Monaten, die er dich hatte, war er glücklicher als je zuvor. Es würde ihm nicht gefallen, dass du seinen Tod als Grund dafür heranziehst, etwas zu zerstören, das er so sehr geliebt hat.«

Im Geheimgang wich Sham vom Guckloch zurück. Hier bestand keine Gefahr für Kerim, und irgendwann hatte Sham begonnen, Vertrauen in die Fähigkeiten des Leoparden zu setzen – er würde Lady Sky diese Torheit auch ohne ihre Hilfe ausreden.

Shamera musste sich von Skys Stimme lösen. Nicht der Tod oder das Sterben waren so hart, obwohl, bei den Gezeiten, beides schlimm genug sein konnte – wirklich hart war es, einen Grund zum Weiterleben zu finden. Sie wünschte Lady Sky Glück dabei.

Aus dem Zimmer der Frau hörte Sham das Geräusch eines Dolches, der zu Boden geschleudert wurde, gefolgt von gedämpftem Schluchzen an der Schulter eines Mannes. Sham hielt inne und wandte sich noch einmal dem Guckloch zu.

Kerim hielt Sky auf seinem Schoß fest, streichelte zärtlich ihr Haar, während ihre Schultern vor Gram zitterten. Sham biss sich auf die Unterlippe und drehte sich weg. In jenem dunklen Gang, wo sie den Lauten des Kummers einer anderen Frau lauschte, gestand sie sich etwas ein, das sie bei Tageslicht niemals zugegeben hätte: Sham, die Diebin, liebte den Vogt von Südwald.

Müde kehrte sie zurück in ihr Zimmer. Sie warf ihre Kleidung wieder in die Truhe und suchte ihr Nachtgewand. Dann kroch sie ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass der Schlaf über sie kam.

Die Tür zu Shams Zimmer prallte mit lautem Knall gegen die Wand. Unvermittelt erwachte sie und fand sich in undamenhaft kauernder Haltung am Rand des Bettes wieder, den Dolch mit einer Hand umklammert. Schlaftrunken runzelte sie die Stirn und spähte den Eindringlingen entgegen.

Talbots hochgezogene Augenbrauen erinnerten sie daran, was die Mätresse des Vogts als Nachtgewand trug, und sie hechtete schnell zurück unter die Decke. Elsic war natürlich gegen den Anblick gefeit.

»Tut mir leid, Euch zu stören, meine Lady«, sagte Talbot und unterdrückte ein Lachen, »aber der Vogt ist in einer Besprechung, und ich habe Arbeit zu erledigen. Ich muss die Aufzeichnungen durchsehen, die aus dem Tempel hergeschickt worden sind. Ich habe gewartet, so lange ich konnte, da Kerim gesagt hat, du warst bis spät in die frühen Morgenstunden unterwegs. Mittlerweile haben wir es nach Mittag, und jemand muss dafür sorgen, dass der Bursche hier« – Talbot klopfte dem Jungen mit schwerer Hand auf die Schulter – »nicht von der Meute verspeist wird.«

Sham bedachte Talbot mit einem finsteren Blick. »Es ist Sitte, anzuklopfen, bevor man eine Tür aufreißt.«

Er grinste sie an. »Du legst also Wert aufs Anklopfen, Diebin? So was hab ich auch noch nie gehört.«

Lachend hob Shamera die Hände, um ihre Niederlage einzugestehen. »Willkommen, Elsic. Schieb ab, Talbot. Wir halten uns gegenseitig aus Schwierigkeiten heraus. Ich halte uns aufgebrachte Menschenmengen vom Leib, und Elsic kann sich der Adeligen annehmen.«

Elsic grinste. »Für Euch, meine Lady, tue ich alles.«

Sham schüttelte den Kopf in Talbots Richtung. »In einer Nacht vom Stallburschen zum Höfling. Schäm dich dafür, unschuldige Jugend zu verderben.«

»Ich?«, gab Talbot entrüstet zurück. »Das waren die Frauenzimmer. Ich bin mit einem Rudel Töchter geschlagen, die jedes nicht mit ihnen verwandte männliche Geschöpf als Freiwild betrachten, erst recht einen so hübschen und geheimnisvollen Burschen wie diesen.«

»Ah«, sagte Sham wissend. »Da haben wir ja den wahren Grund, aus dem du Elsic heute mit in die Feste genommen hast.«

Talbot grinste sie an und ging. Sham setzte dazu an, aus dem Bett zu steigen, dann zögerte sie mit einem Blick auf Elsic.

»Ich kann dich wirklich nicht sehen«, beteuerte er mit einem listigen Lächeln. Offensichtlich hatte ihm ein mit Talbots Familie verbrachter Abend gutgetan – er sah wesentlich weniger verloren als am Vortag in den Stallungen aus.

»Ich denke, du kannst in Kerims Zimmer warten, bis ich angezogen bin, mein Freund. Wenn du vier Schritte geradeaus gegangen bist«, sagte sie und wartete, bis er ihrer Aufforderung nachkam, »machst du einen Schritt nach links, dann sechs Schritte auf die Wand zu. Dreh dich nach rechts, und geh vorwärts, bis du den Wandteppich ertastest. Unter dem Wandteppich ist ein Durchgang zu Kerims Schlafzimmer.«

Als er ihr Zimmer verlassen hatte, warf Shamera die Decke zurück und zog wahllos ein Kleid heraus. Es handelte sich um ein geblümtes Teil aus Seide in flammendem Orangegold und tiefem Indigoblau mit Schlitzen an beiden Seiten des Rocks, die bis nach oben zu den Hüften reichten. Sie musste weiter herumkramen, um den Unterrock zu finden – wenig mehr als bunte Seidenstreifen auf einer Schnur. Es beruhte auf einigen der Kleider, die Frauen der Händlerclans trugen, war jedoch wesentlich aufreizender – außerdem wies es vergleichsweise wenige Knöpfe auf, und die einzigen, die Sham nicht erreichen konnte, ließen das Kleid auch nicht offenherziger werden, als es bereits war.

Als sie sich in Richtung von Kerims Zimmer in Bewegung setzte, fiel ihr Blick auf die zwei Bücher, die geduldig auf dem Nachttischchen warteten, das auf wundersame Weise als Ersatz für das von ihr zerstörte aufgetaucht war. Sie würde eine Möglichkeit finden müssen, Elsic zu beschäftigen, während sie den Wälzer über schwarze Magie durcharbeitete – und einen besseren Ort, um das Buch zu verwahren, wenn sie sich nicht in ihren Gemächern aufhielt. Ihre Truhe mochte zwar verhindern, dass der Band in unschuldige Hände gelangte, aber sie würde ihn nicht vor jemandem verbergen können, der etwas von Magie verstand.

Sham hörte die leisen Geräusche einer Harfe, die gestimmt wurde. Sie duckte sich unter dem Wandteppich hindurch und stellte fest, dass Elsic inmitten all der im Raum verstreuten Waffen eine kleine Bardenharfe entdeckt hatte. Er saß am Fußende des Bettes des Vogts und stimmte das Instrument. Die Bettwäsche wies einen Fleck auf, der verdächtig danach aussah, als hätte er den Stoff benutzt, um die Harfe abzustauben.

Elsic schaute auf, als sie den Raum betrat, und löste die Finger von den Saiten. »Kerim lässt mich damit spielen, wenn ich hier bin. Es ist ein feines Instrument.«

Sham betrachtete die Harfe mit zweifelndem Blick. Auf dem Markt würde sie nicht mehr als drei Kupferstücke einbringen, und das nur, wenn jemand sie vorher putzte und polierte; das Holz war alt, die Oberfläche zerkratzt, als hätte ein Barde sie auf den Wanderungen mehrerer Lebzeiten mit sich geführt.

»Hat er dir beigebracht, wie man spielt?«, fragte sie, weil sie lieber keine Äußerung zur Güte der Harfe abgeben wollte.

Elsic schüttelte den Kopf und begann, die Hände erneut über die Saiten wandern zu lassen. »Nein. Ich wusste bereits, wie man spielt, auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte, bis ich die Harfe gehalten habe. Lord Kerim sagt, seine Finger sind zu klobig für die Saiten, aber er singt manchmal mit mir.«

Die Weise, die er spielte, hörte sich unvertraut an, aber ihr tief bewegender Klang jagte Sham einen Schauder über den an sich unempfindsamen Rücken. Sie hatte immer den Alten Mann für einen Meister der Musik gehalten, doch er war dem Können, das Elsic unter Beweis stellte, als er der alten, abgewetzten Harfe Töne entlockte, nie auch nur nahegekommen. Die Saiten weinten geradezu vor der Wehmut seines Liedes.