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Müde rieb sich Shamera die Augen und schloss mit einem Zauber das Buch. Talbot hatte Elsic vor mehreren Stunden abgeholt und war mit ihm gegangen. Irgendwann danach hatte ihr Dickon ein Abendessen und eine Botschaft vom Vogt gebracht. Kerim wollte bei ihr vorbeischauen, sobald er seine Besprechungen hinter sich hätte, aber es würde sehr spät werden.

Sham spielte gerade mit dem Gedanken, es mit ein wenig Schlaf zu versuchen, als jemand sachte an ihre Tür klopfte. Da es die Außentür war, handelte es sich wahrscheinlich nicht um Kerim, und für Dickon klang das Klopfen zu leise.

»Wer ist da?«, rief sie auf Cybellisch mit dem starken Akzent, den sie sich als Mätresse des Vogts angeeignet hatte.

»Eine Botschaft für Euch, Herrin«, erwiderte eine unbekannte männliche Stimme.

Kurz zögerte Sham, dann öffnete sie die Truhe und legte das Buch hinein. Nachdem sie die Truhe sorgfältig wieder geschlossen hatte, säuselte sie: »Einen Augenblick …«

Rasch überprüfte sie im Spiegel ihr Erscheinungsbild. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie so aussah, wie sie es sollte, öffnete sie die Tür.

Der Mann, der davorstand, trug die Farben eines Bediensteten der Feste. In den behandschuhten Händen hielt er eine kleine Holzkassette, die er ihr entgegenstreckte. Ein Geschenk also, dachte sie, genau wie all die anderen, die man ihr in dem Versuch hatte zukommen lassen, ihre Gunst zu erringen.

Sie nahm die Kassette entgegen und untersuchte sie, wie es jede gierige Frau tun würde. Das dunkle Holz erwies sich als übersät mit einer Vielzahl geschnitzter Vögel, von denen sich keine zwei glichen. Kurz fragte sie sich, ob das bereits das Geschenk darstellte, doch als sie die Kassette umdrehte, ratterte etwas darin.

»Du kannst jetzt gehen«, befahl sie hochmütig, da sie fand, dass sie kein Publikum brauchte.

»Es tut mir leid, Herrin, aber mir wurde aufgetragen, zu warten, bis Ihr die Kassette geöffnet habt.«

Schulterzuckend betätigte Sham den kleinen Riegel. Eingebettet in schwarzes Tuch lag ein polierter, in einen goldenen Ring gefasster Sternrubin. Ihr erfahrenes Auge berechnete grob, wie viel ein solcher Ring wert sein mochte – mehr jedenfalls als der kleine Schatz aus Goldmünzen in ihrer Meereshöhle. Der Mann, der ihn ihr geschickt hatte, war entweder ein Narr, oder er hatte eine ganz besondere Gefälligkeit im Sinn. In der Kassette befand sich keine Mitteilung.

»Wer hat das geschickt?«, fragte sie.

»Es wurde vertraulich gesendet, Herrin. Ich soll mich davon überzeugen, ob das Geschenk passt, bevor ich zurückkehre.«

Sham bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln, doch es war eines, wie es von der Mätresse Kerims zu erwarten war: oberflächlich und frivol. Sie rechnete nicht damit, dass es bei einem Diener Wirkung erzielen würde, der den Umgang mit Lady Tirra gewöhnt war. Da sie zu dem Schluss gelangte, es wäre der einfachste Weg, den Mann loszuwerden, steckte sie den Ring an.

Der Schlafzauber wirkte so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, sich für ihre Dummheit zu schelten. Ihr panischer Versuch, gegen den Bann anzukämpfen, verlief ins Leere.

Teilnahmslos fing der Diener die Frau auf, bevor sie fallen konnte, und warf sie sich über die Schulter. Er betrat ihr Zimmer, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Vorübergehend legte er die Mätresse des Vogts auf ihrem Bett ab, während er die Tunika und das Beinkleid eines Dieners auszog. Darunter trug er ein schlichtes braunes Hemd und eine weite, dunkle Hose.

Danach hievte er sich die Frau wieder über die Schulter, betätigte die Vorrichtung zum Öffnen der Täfelung in der Nähe des Kamins und betrat den Geheimgang.

13

Fykall seufzte erschöpfter, als es am Ende des Tages notwendig gewesen wäre. Er stellte fest, dass er sich zunehmend unzufriedener mit seinem Rang als rechte Hand des Hohepriesters fühlte. Sogar die Freude darüber, den Vogt bei Lord Vens Bestattung überlistet zu haben, hatte nicht lange gewährt.

Als Junge hatte er Altis’ Ruf vernommen und ihm treu mit aller Kraft gedient, die sein drahtiger kleiner Bauernkörper zu bieten hatte. Im Verlauf der Jahre hatte sich seine Hingabe bezahlt gemacht – der zierliche Priester war rasch durch die Ränge von Altis’ Dienerschaft aufgestiegen. Einmal – und er erinnerte sich an die Gelegenheit als den erhebendsten Augenblick seines Lebens – war ihm gestattet gewesen, die Hand von Altis’ Stimme zu küssen. Der Prophet hatte ihn angelächelt, kurz über Fykalls Dienste gesprochen und ihn nach Landsend geschickt.

Abermals seufzte der kleine Mann. Fykall verscheuchte die Tempelkatze vom Betpult, die seine Gemächer zu ihrem persönlichen Hoheitsgebiet erklärt hatte, kniete sich hin und neigte das Haupt.

Er war mit so großen Hoffnungen nach Landsend gekommen – und nicht nur, weil die Stimme ihn persönlich hergeschickt hatte. In Cybelle erzählten sich die Priester Geschichten über den Leoparden und die Wunder, die er im Namen Altis’ wirkte. Fykall war bereit gewesen, sich in Ehrfurcht vor einer Legende zu verneigen – stattdessen hatte er einen Mann kennengelernt, obendrein einen, der sehr wenig Liebe für die Tempelpriester erkennen ließ. Wenngleich, so dachte Fykall, der Umgang mit Brath für ein Jahrzehnt vermutlich jeden eine Abneigung gegen die Priesterschaft entwickeln ließe. Aber trotz allem – manchmal fragte sich der kleine Geistliche, ob der Vogt Altis überhaupt anbetete.

Hatte sich der Leopard als Enttäuschung erwiesen, so entpuppte sich der Hohepriester als Mühsal einer völlig anderen Größenordnung. Wie konnte ein Mann seines Ranges in der Kirche das Licht von Altis’ Geleit dermaßen aus den Augen verlieren? Der Hohepriester gierte nach Reichtum und Ruhm – die Gesinnung des Tempels kümmerte ihn weniger als das Gold an der Tür seiner Amtsräumlichkeiten.

Fykall schloss die Augen und murmelte ein seiner Zunge dermaßen vertrautes Gebet, dass es keines bewussten Zutuns bedurfte. »Gesegneter, gewähre mir das Begreifen deiner Weisheit und die Geduld, das Ergebnis deiner Wünsche abzuwarten. Ich danke dir für dein Verständnis für meine Unzulänglichkeiten. Amen.«

Ein warmes Kribbeln durchströmte ihn, und er wusste, wenn er die Augen öffnete, würde er den Schein von Altis’ Malen an seinen Händen sehen. Aber er wartete und lauschte, wie es ihm beigebracht worden war. Erst als das Kribbeln der Macht vollständig verschwunden war, schlug er die Lider auf.

Mit einem Seufzen erhob er sich und strich seine weißen Gewänder penibel glatt, bis sie in tadellosen Falten bis zur Mitte seiner Waden hinabhingen. Er zog seinen grünen Gürtel fest, trat von dem kleinen Altar zurück und griff nach dem Glas Orangensaft, das er aus Gewohnheit vor dem Schlafengehen trank.

Fykall, säubere mein Haus.

Erschüttert fiel der kleine Priester auf die Knie, ohne die Schmerzen zu bemerken, als er auf dem harten Boden aufprallte. Er hatte Altis’ Stimme seit seinem Übertritt als Junge nicht mehr gehört, aber das tiefe Grollen klang genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis ihn seine Ehrfurcht die Bedeutung der Worte verstehen ließ.

Das Haus säubern? Wie konnte das sein? Natürlich wies seine derzeitige Position darauf hin, dass er die Gunst seines Gottes verloren hatte, doch er hätte nie mit einem solchen Verweis gerechnet. Reinigungsarbeiten übernahmen die Tempeldiener, sodass sich die Priester wichtigeren Aufgaben widmen konnten.

Fykall, säubere mein Haus.

Fykall verließ seine Kammer. Schliefe er vorher, war zu befürchten, dass seine Entschlossenheit ihn im Verlauf der Nacht verlassen könnte. Vielleicht hatte Altis in seinem Herzen das Körnchen Stolz entdeckt, das darin gewachsen war, seit sich seine Pflichten von banalen Dingen zu Höherem weiterentwickelt hatten. Wenn Altis wollte, dass er Böden wischte, würde er sich einen Besen suchen und damit anfangen.

Nach kurzer Überlegung gelangte er zu dem Schluss, dass er einen solchen Behelf am wahrscheinlichsten in der Nähe der Küche finden würde, die sich derzeit auf der anderen Seite des Tempels befand. Mit demütig vor dem Willen seines Gottes geneigtem Kopf ergriff der Priester eine Fackel von der Wand und trat den Weg durch die langen, dunklen Gänge an.