Die Neuartigkeit eines solchen Gesprächs lenkte ihn vorübergehend von dem vertrauten Krampf der Muskeln in seinem Kreuz ab. Bald, so fürchtete er, würde er das Reiten völlig aufgeben müssen. Brandmal verwirrte es zunehmend, wie häufig und linkisch sein Reiter im Sattel das Gewicht verlagerte.
Der Leopard wandte sich vom Meer ab, doch der Junge war verschwunden. Kerim blieb allein mit einem Feind zurück, den er mehr fürchtete als alle Gegner, gegen die er je in die Schlacht gezogen war. Er wusste nicht, wie er gegen die lähmenden Krämpfe in seinem Rücken oder gegen die noch beunruhigendere Taubheit kämpfen sollte, die von seinen Füßen stetig höher kroch.
Sham ging mit schnellen Schritten durch die schmalen Straßen, um sich warm zu halten. Die Hütte, die sie für den Alten Mann gefunden hatte, lag in der Nähe der Ausläufer von Fegfeuer, in einem Gebiet, wo sich die Stadtgarde noch hinwagte. Die Unterkunft war alt und klein, grob zusammengeschustert, aber sie hielt den Regen und den ab und zu fallenden Schnee ab.
Sham wohnte nicht dort mit ihm, obwohl sie ihre unredlich erlangten Einkünfte benutzt hatte, um das Haus zu kaufen. Die Flüsterer sorgten mit ihrem Schutz für seine Sicherheit, und Sham war den Gardisten in Fegfeuer als Diebin wohlbekannt. Ihre Gegenwart hätte höchstens bewirkt, dass sie den hart erkauften Frieden des Alten Mannes störte, also besuchte sie ihn nur hin und wieder.
Der Alte Mann fand sich damit genauso ab, wie er sich mit der von ihr gewählten Arbeit abgefunden hatte. Die sich in Fegfeuer bietenden Beschäftigungsmöglichkeiten waren begrenzt und neigten dazu, Leben zu verkürzen. Aber gute Diebe lebten länger als schlechte und länger als Bandenmitglieder.
Sham verlangsamte die Schritte, als der Mangel an Unrat auf den Straßen darauf hinwies, dass sie sich der Hütte des Alten Mannes näherte. Sie wollte nicht außer Atem bei ihm eintreffen – der Alte Mann machte sich Sorgen, wenn er glaubte, sie sei mit knapper Not Verfolgern entronnen.
Es war die in Fegfeuer zum Überleben notwendige besondere Aufmerksamkeit, die sie erkennen ließ, dass irgendetwas nicht stimmte. In der Straße, in der die Hütte des Alten Mannes stand, fehlte all das unscheinbare Treiben in den Schatten, das sogar zu den besseren Gegenden gehörte. Irgendetwas hatte bewirkt, dass sich die zähen kleinen Bewohner in ihre Löcher verkrochen hatten.
2
Sham begann zu rennen, als sie die Tür der Hütte des Alten Mannes zerbrochen auf dem dreckigen Kopfsteinpflaster der Straße liegen sah. Sie rannte immer noch, mittlerweile mit dem Dolch in der Hand, als sie hörte, wie Maur mit einer Mischung aus Wut und Grauen aufschrie, die heiser durch die Nacht hallte.
Als sie den dunklen Eingang erreichte, hielt sie inne. Tief in ihr verwurzelte Vorsicht zwang sie, mit Bedacht einzutreten, obwohl sie hineinstürmen wollte wie ein Uriah auf der Jagd. Sham lauschte einen Augenblick, aber nach dem ursprünglichen Schrei herrschte in der Hütte Stille.
Als sie über die Schwelle trat, bestürmte sie der durchdringende Geruch von Blut. Beim Gedanken, den alten Zauberer so zu verlieren, wie sie alle anderen verloren hatte, flutete sie den kleinen Raum unbesonnen mit Magierlicht. Weil ihre Augen noch an die Dunkelheit gewöhnt waren, konnte sie zuerst kaum etwas erkennen, doch schnell stellte sie fest, dass überall Blut war, als hätte es in Form einer Wolke die Wände überzogen.
Der Alte Mann kauerte in einer Ecke auf den Knien, einen Arm über das Gesicht erhoben. Er blutete aus Hunderten kleinen Schnitten, die sowohl seine Kleidung als auch seine Haut zerfetzt hatten. Niemand sonst befand sich im Raum.
»Meister!«, rief sie.
Beim Klang ihrer Stimme drehte er sich ihr zu. Eindringlich sagte er: »Geh, Kind, beeil dich! Das ist nicht dein Kampf.«
Als er sprach, erschien auf seinem erhobenen Arm ein breiter roter Schlitz, wie von einem unsichtbaren Künstler gemalt. Wenngleich sie den flüchtigen Eindruck einer Bewegung erhascht hatte, war es verschwunden, bevor sie feststellen konnte, worum es sich handelte.
Sein Befehl klang so vehement, dass Sham unwillkürlich einen Schritt zurückwich, bevor sie sich fasste.
Das letzte Mal hatte ihr Meister vor zwölf Jahren Magie gewirkt. Blind und verkrüppelt war er so hilflos wie ein Kind – sie würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen.
Ihr Mund bildete eine scharfe Linie, als eine weitere Wunde erschien und Blut seitlich an seiner verunstalteten Hand hinabtroff. Sham vollführte eine Geste und wob in der Hoffnung, den unsichtbaren Verursacher zu entdecken, einen einfachen Erkennungszauber, aber die Magie im Raum war stark und erstickte ihren Versuch. Der Angreifer schien überall und nirgendwo zugleich zu sein.
Sie versuchte es mit einem Zauber, der die Art der Magie, die der Unbekannte benutzte, erkennen sollte, damit sie versuchen könnte, dem entgegenzuwirken. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als ihr Zauber ihr mitteilte, dass das hier nichts Menschliches war, was immer es sein mochte. Ebenso wenig handelte es sich um eine der Kreaturen, die natürliche Magie verwenden konnten, denn was sie gespürt hatte, besaß keine Verbindung zu den Kräften, die von der Geistebbe aufgerührt worden waren. Somit blieb nur eine Hand voll Wesen als Möglichkeit, und keines von denen war besonders ermutigend.
Sie ließ den nutzlosen Dolch fallen. Als die Klinge klirrend auf dem Boden landete, glitt die Flöte in ihre Hand, als hätte das Instrument ihre Unaufmerksamkeit genützt, um aus der Tasche in ihrem Ärmel zu rutschen.
Als sich ihre Finger um die geschnitzte Oberfläche schlossen, kam ihr der Gedanke, dass ein Gegenstand nicht unbedingt scharf sein musste, um als Waffe zu dienen. Zum zweiten Mal an diesem Abend setzte sie das Mundstück an die Lippen und blies leise ins Instrument, ließ Musik die Luft erfüllen. Sie würde zwar als Musikerin nie das Können einer Bardin erreichen, trotzdem war sie dankbar für die Jahre, die sich der Alte Mann bemüht hatte, ihr seine Liebe zur Musik einzuflößen.
Als die ersten Noten im Raum erklangen, konnte sie fühlen, wie sich die Magie scharte, weit mehr, als sie allein heraufzubeschwören vermocht hätte. Magie umgab sie, setzte ihr Blut wie strömendes Wasser mit einem berauschenden Strudel von Macht in Wallungen. Natürlich würde sie später dafür bezahlen – darin bestand das Geheimnis der Flöte. Schon mehr als ein Magier war gestorben, nachdem er sie benutzt hatte, weil er zu spät erkannt hatte, welch hohen Preis die Macht dieses Instruments einforderte. Andere waren gestorben, als die Magie zu stark anschwoll und für sie nicht mehr beherrschbar wurde.
Sie bemühte sich, nicht auf das von der rasch anschwellenden Flut der Magie erzeugte Hochgefühl zu achten. Als sie spürte, dass die Macht an ihre Grenze der Beherrschbarkeit stieß, löste sie das Mundstück von den Lippen.
Ihr Körper fühlte sich taub von den Kräften an, die sie hielt, und es bedurfte größerer Anstrengung, als nötig sein sollte, um die Arme zu heben und mit einem Abwehrzauber zu beginnen. Sham beobachtete, wie sich ihre Hände bewegten, konnte beinahe den Schimmer der Magie sehen, die sie wob. Als ihr Zauber zu zerfallen begann, war sie so in ihre Aufgabe vertieft, dass sie die Ursache dafür nicht sofort erkannte.
Der Alte Mann hatte sich auf die Beine gerappelt und sich ihr weit genug genähert, um sie mit einer seiner vernarbten, krummen Hände am Hals zu berühren.
»Wenn du gestattest, meine Liebe«, sagte der alte Hexer leise, als er die Magie von ihr abzog, die sie gebündelt hatte.
Einen Augenblick lang erschreckte sie seine Handlung.
Alle Lehrlinge waren an ihre Meister gebunden. Das war nötig, um die Gefahr zu verringern, dass unerfahrene Magier die Herrschaft über die von ihnen heraufbeschworene Macht verloren und alles um sie herum niederbrannten.