Der Hai nickte mit ernster Miene. »Das sind Freunde von mir. Die hübsche kleine Stute hier« – er rieb Shams Pferd unter dem Wangenriemen das Gesicht, und das Tier schloss wohlig die Augen – »ist ein wenig unruhig, deshalb wollten wir sie nicht so gerne allein lassen. Könntest du den Giftpilz wohl dazu überreden, herauszukommen und kurz mit uns zu reden?«
»Über?«
»Ich möchte … von ihm eine Liegenschaft für heute Nacht mieten«, antwortete Shamera.
»Ich werde es ihm mitteilen.« Der Mitarbeiter des Giftpilzes kehrte ins Haus zurück.
Sie warteten. Shameras ›unruhige‹ Stute verfiel in ein leichtes Dösen und verscheuchte mit dem Schwanz halbherzig Fliegen.
Schließlich näherte sich ihnen ein Mann mittleren Alters mit einem leichten Schmerbauch und einem rundlichen, gutmütig wirkenden Gesicht aus einer Gasse, die mehrere Gebäude entfernt war von den Amtsräumlichkeiten des Giftpilzes.
»Ich wette, er ist auch nicht so nett, wie er sich gibt«, merkte Talbot leise an.
Sham brummte zustimmend.
»Mein Freund hat mir mitgeteilt, dass ihr eine Liegenschaft mieten möchtet«, sagte der beleibte Mann freundlich.
Sham nickte. »Ich muss den Ort in der Nähe der Klippen mieten, wo früher die alte Glocke hing, von jetzt bis zum Morgengrauen.«
Der Giftpilz schürzte die Lippen. »Ich kenne die Stelle. Heute Nacht ist Geistebbe, nicht wahr? Ein hübscher Ort für ein Stelldichein zweier Liebender.«
Sham bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. »Ganz genau.«
Er ließ den Blick abwägend über ihre Kleidung wandern, wie sie es erwartet hatte. Es wäre zwar sicherer gewesen, ihre Tunika und Hose zu tragen, aber dann hätte er vielleicht überhaupt keine Geschäfte mit ihr gemacht. Die Gebietsherrscher von Fegfeuer galten als wankelmütiger Menschenschlag.
»Zehn Goldstücke.«
»Für diesen Preis will ich die Gewähr, dass wir nicht gestört werden«, gab Shamera zurück.
»Elf Goldstücke, und ich stelle Wachen bereit.«
»Zehn Goldstücke«, beharrte sie ungerührt. »Ich habe eigene Leute. Du musst für mich nur verbreiten, dass sich deine Leute heute Nacht von den Klippen fernhalten sollen. Nur zu ihrer eigenen Sicherheit, du verstehst? Ich habe Feinde, und es wäre zutiefst bedauerlich, wenn einer meiner Männer versehentlich einen von deinen tötet.«
»Ah, verstehe«, willigte er herzlich ein. »Also zehn Goldstücke.«
Sham nickte Talbot zu, der Kerims Geldbörse öffnete und zehn Goldmünzen hervorholte.
Sham wartete, bis sie außer Sicht geritten waren, bevor sie sich zur Seite streckte und die Geldbörse ergriff. Sie zügelte ihr Pferd in der Nähe des Hais und warf ihm den schweren Lederbeutel zu.
»Hai, da sind weitere zehn Goldstücke. Ich weiß, dass du für gewöhnlich keinen Schutz bietest, aber ich brauche Leute, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass sie die Gegend frei von Menschen halten.«
»Hat das etwas mit dem Dämon zu tun, der Maur getötet hat?«
Sham nickte. »Es geht nicht um Rache. Aber es ist das Beste, was ich tun kann.«
»Na schön.« Er hob zwei Finger an die Lippen und stieß einen durchdringenden Pfiff aus.
Von irgendwo kam ein dünner Mann angetrabt, der Talbot, den er offensichtlich kannte, mit ernster Miene einen Gruß zunickte.
»Vawny wird euch zum gemieteten Ort begleiten, während ich ein paar Gefälligkeiten einfordere«, erklärte der Hai. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du vorhast, sofort hinzugehen?«
»Ja«, bestätigte Shamera.
Vawny und Talbot blieben bei den Pferden, während Sham auf dem sandigen Untergrund oberhalb der Klippen ein Muster abschritt. Der Meeresspiegel war niedriger als sonst; nicht einmal die Gischt der Brandung reichte derzeit bis nach oben. Sie hatte den Ort sorgfältig ausgewählt. Den sandigen Bereich umgaben große Felsblöcke, manche so hoch wie ein zweigeschossiges Gebäude, und zusammen sahen sie wie schartige Haifischzähne aus. Dazwischen standen als Unterstände zusammengebastelte Holzhütten. Derzeit erwiesen sie sich als leer, weil der Giftpilz die letzten Bewohner für die Nacht vertrieben hatte. Die Hütten würden als Verstecke vor dem Dämon dienen, bis die Falle zuschnappte.
Nachdem Shamera die Rune einmal abgeschritten hatte, kletterte sie auf einen geeigneten Felsbrocken, um ihr Werk zu begutachten. Dann glitt sie zurück hinunter in den Sand, führte mehrere Verbesserungen durch und besah sich die Arbeit erneut.
Zufrieden ergriff sie einen Stock und begann von vorn, drückte ein Ende tief in den Untergrund, um ihre Schritte nachzufahren. Als das Muster fertig war, kramte Sham durch Talbots Satteltaschen, bis sie die Spule mit dem Goldgarn fand.
Wiederholt schaute sie zu Vawny und beschloss, seine Redlichkeit nicht unnötig auf die Probe zu stellen. Bevor sie das Garn aus der Satteltasche zog, färbte sie es mit einem leise gemurmelten Zauber schwarz.
Sie streckte sich einmal und fing an, das Metallgarn in das Muster auf dem Boden zu legen. Es dauerte eine geraume Zeit, und ihr Rücken wurde steif, während der anbrechende Abend den Himmel verdunkelte, lange bevor sie fertig wurde.
»Kann ich helfen?«, fragte Talbot leise und brachte ihr eine Flasche von seinem Sattel.
Sham nahm dankbar etwas zu trinken an und zuckte mehrfach mit den Schultern, um die angespannten Muskeln zu lockern. Mittlerweile zog sich das Meer von den Klippen zurück und hinterließ einen zunehmend breiteren Sandstreifen. In der Ferne konnte sie die Oberkante des Walls der Wellenbrecher erkennen, ein dunkler, zerklüfteter Umriss, der sich am Horizont abzeichnete. Das wellenlose Meer zwischen dem Wall und dem Strand präsentierte sich glatt wie schwarzes Glas.
Sham gab die Flasche zurück und nickte. »Ja, du musst für mich Elsic und Lord Halvok holen. Inzwischen sollten sie dich bereits bei dir zu Hause erwarten. Bevor du zurück bist, bin ich hiermit fertig.«
Endlich wurde sie tatsächlich fertig. Sham schloss die Augen und sandte einen zarten Hauch von Magie durch das Ende des Garns, das sie in der linken Hand hielt. Kurz darauf durchlief ein leichtes Kribbeln ihre rechte Hand, die das andere Ende des Garns berührte. Der Geschmack der Magie verriet ihr, dass sie das Muster richtig angefertigt hatte. Vorsichtig legte sie beide Enden auf den Boden und achtete darauf, dass sie sich nicht berührten.
Mit einer Geste versetzte sie den Sand so in Bewegung, dass er sowohl die Rune als auch die Spuren überdeckte, die ihre Knie zurückgelassen hatten. Schließlich stand Shamera auf und betrachtete die Überreste ihres Kleids. Sollte diese Nacht nicht wie geplant verlaufen, würde sie ihr Leben vermutlich in diesem zerlumpten, dreckigen Seidenkleid beenden.
Sie entfernte den Trugbann, den sie am Garn angebracht hatte. Da es nunmehr von Sand bedeckt war, brauchte sie ihn nicht mehr, und sie wollte nicht, dass auch nur ein Hauch von Magie den Dämon warnte. Als sie einen zerbrochenen Kopfstein in die Mitte der Rune legte, hörte sie, wie sich Reiter näherten. Es war zu dunkel, um sie zu sehen, aber es konnte sich nur um Talbot, Halvok und Elsic handeln. Andere Reiter hätte der Hai nicht durchgelassen.
Sham schloss die Augen und wirkte ein wenig Magie.
In der Feste beobachtete Kerim, wie die kleine Rune, die Sham auf seinen Stuhl gezeichnet hatte, kurz aufleuchtete. Demnach war es so weit.
Ungeachtet seiner beeindruckenden Selbstbeherrschung und seiner Zweifel verspürte er den Anflug eines Hochgefühls und Kampfrauschs. Er wackelte in den Stiefeln mit den Zehen, um sich zu beweisen, dass er es konnte, dann grinste er Dickon an.
»Mach die Pferde bereit«, sagte er. »Es ist so weit.«
Die Reiter stiegen ab und reichten die Zügel ihrer Pferde dem Mann, der Vawny vor etwa einer Stunde abgelöst hatte. Als der Gefolgsmann des Hais die Tiere wegführte, kamen die Neuankömmlinge auf Shamera zu.
Elsic trug in einer Hand Maurs Flöte und hielt sich mit der anderen an Talbots Arm fest. In seinem Gesicht prangte ein breites Grinsen. »Glaubst du wirklich, dass es klappen wird?«