»Nein«, gab Sham verhalten zurück.
Elsics Züge hellten sich durch ihre Antwort höchstens noch auf. Sie verstand ihn – es fühlte sich gut an, gebraucht zu werden. Wäre der Junge ein wenig älter gewesen, hätte er nicht halb so viel Vertrauen in den wilden Plan gesetzt, den sie ersonnen hatte.
»Ich auch nicht«, fügte Lord Halvok hinzu. »Wenn du deine Rune auslösen willst, kann ich immer noch Zauber wirken, die den Dämon zwingen, sich mir zu unterwerfen, jedenfalls während meiner Lebenszeit.«
»Während Eurer kurzen Lebenszeit, wenn es nach dem Dämon ginge«, erwiderte Sham ruhig – dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, als sie ihn ursprünglich um Hilfe gebeten hatte.
»Falls Shameras Plan fehlschlägt, könntet Ihr dann versuchen, den Dämon zu beherrschen?«, fragte Talbot.
Sham schüttelte den Kopf und antwortete, bevor Halvok es tun konnte. »Nein. Ich muss die Rune auslösen, die den Dämon festhält, während ich gleichzeitig den Zauber wirke, der ihn nach Hause schickt. Wenn ich versage, wird er nicht gefesselt sein – und alles andere als erfreut über uns. Aber keine Sorge, wenn mein Zauber nicht wirkt, wird uns der Rückstoß wilder Magie töten und Fegfeuer bis auf die Grundfesten niederbrennen, bevor uns der Dämon etwas tun kann.«
»Danke«, sagte Talbot mit einem schiefen Grinsen. »Das ist gut zu wissen. Ich möchte wirklich nicht von einem Dämon getötet werden.«
Sham ließ Talbot mit Lord Halvok reden und ging zum Rand der Klippen. Unter ihr herrschte tiefe Schwärze. Obwohl der Mond nicht genug Licht spendete, um etwas erkennen zu können, wusste sie aufgrund der Ruhe, dass Ebbe herrschte. Die unnatürliche Stille wirkte erwartungsvoll.
Elsic setzte sich neben sie auf den Boden. Die blicklosen Augen geschlossen, atmete er die salzige Luft ein.
Kerim klopfte leise an die Tür, bereit, seine Rolle zu spielen. Obwohl er von Natur aus ein ehrlicher Mensch war, gehörte es zum Rüstzeug jedes Politikers, sich zu verstellen, und er hegte keine Zweifel an seinen Fähigkeiten in dieser Hinsicht. Allerdings bereitete es ihm Kopfzerbrechen, Sky zu verletzen, denn sie hatte bereits genug gelitten.
»Wer ist da?« Skys Stimme klang heiser vor Schläfrigkeit.
»Kerim.« Eine Pause entstand, und er konnte beinahe hören, wie sie nachdachte.
»Mein Lord?« Die Tür öffnete sich einen Spalt, und sie spähte heraus. Ihr Nachtgewand war dünn und einladend.
Kerim schenkte ihr sein bestes jungenhaftes Grinsen. »Weißt du, was für ein Tag heute ist?«
»Nein, mein Lord.« Sie lächelte mit einem Anflug von Schüchternheit.
Als er sie ansah, fiel es ihm noch schwerer zu glauben, dass Shams Verdacht zutraf. Er hatte das Gefühl, dass er sich noch vor dem Ende der Nacht bei Sky würde entschuldigen müssen.
»Es ist der Tag der Geistebbe. Hast du sie je bei Nacht gesehen?«
»Nein, mein Lord.«
»Tja, dann zieh dich an. Das musst du gesehen haben. Ich weiß, einem anstrengenden Ritt bist du noch nicht gewachsen, aber wir nehmen ein sanftmütiges Pferd für dich – ich habe eines, das läuft mit butterweichen Schritten … und ich glaube, ich schulde dir noch eine Entschuldigung für letzte Nacht.«
Sie straffte die Schultern. »Was ist mit Lady Shamera?«
Kerim ließ ein trauriges Lächeln über seine Züge wandern. »Ah, Lady Shamera … Vielleicht streifst du dir einen Morgenrock über, dann komme ich hinein und erzähle dir von ihr. Der Flur ist dafür nicht der richtige Ort – ich verspreche auch, ich behalte meine Hände bei mir.«
Kurz schloss sich die Tür. Als Sky sie wieder öffnete, hatte sie sich züchtig mit einem elfenbeinfarbenen Morgenrock aus Seide bedeckt. »Komm herein, mein Lord.«
Er trat an ihr vorbei, was sich mit den Krücken nicht anmutig bewerkstelligen ließ, aber trotzdem wesentlich einfacher als mit dem Rollstuhl war, und ließ sich auf einem ungemütlichen Holzstuhl nieder. Sie schaute von ihm zum einzigen anderen Sitz im Raum, einem gepolsterten Sofa, und lächelte ihn an, bevor sie darauf Platz nahm.
»Du wolltest mir von Lady Shamera erzählen?«
»Ja«, erwiderte er seufzend und blickte auf seine Füße, bevor er sie ansah. »Weißt du, ich bin nicht ihr erster Beschützer. Sie erfreut sich an Männern. Ich habe sie kennengelernt, kurz nachdem du hier eingetroffen bist, und ich glaube, es war das Wissen, dass ich dich in Ruhe lassen musste, das mich zu ihr hingezogen hat.
Aber ich war verkrüppelt, und es wurde schlimmer und schlimmer.« Er schluckte schwer und fuhr beinahe im Flüsterton fort. »Ich wusste, dass Ven dich geliebt hat und ein bewundernswerter Ehemann und Vater gewesen wäre. Das Kind … das Kind war von mir, nicht wahr?« Die Traurigkeit in seiner Stimme brauchte er nicht vorzutäuschen: das arme Kind, von Dämonen und längst verstorbenen Zauberern oder einem Missgeschick dem Tode geweiht – wovon genau spielte eigentlich keine Rolle. »Ich dachte, ich stürbe. Ich sah keinen Sinn darin, dich ein zweites Mal zur Witwe zu machen, also habe ich nach etwas gesucht, das ich zwischen uns schieben konnte – und dabei Shamera gefunden.« Er spielte am oberen Teil seiner linken Krücke herum. »Dann fing ich an, mich zu erholen.«
»Mir ist aufgefallen, dass es dir besser geht, mein Lord. Kannst du mir sagen, warum?«
Er zögerte, und es gelang ihm, frustriert und ein wenig schuldbewusst dreinzuschauen. »Das ist der wirklich eigenartige Teil, und ich bin nicht sicher, ob es mir zusteht, das Geheimnis zu verraten.«
»Mein Lord«, sagte sie und sah ihm unverwandt in die Augen. »Alles, was du mir anvertraust, bleibt bei mir allein.«
Er bedachte sie mit einem abwägenden Blick, dann nickte er, als habe er eine Entscheidung getroffen. »Spät eines Nachts, als einer der Krampfanfälle einsetzte, kam Shamera herein und … hat Magie gewirkt.« Er ließ einen Teil der Verwunderung, die er damals empfunden hatte, in seine Stimme einfließen. »Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Shamera hat mir erzählt, dass die Zauberer größtenteils von hier geflohen sind, aber ein paar verbergen, was sie in Wirklichkeit sind. So auch sie.«
»Hat sie herausgefunden, wer dir das angetan hat?«
Kerim nickte, während ihm die Bedeutung des Fehlers bewusst wurde, den Sky gerade begangen hatte. Er hatte nie erwähnt, dass Sham einen ihm auferlegten Bann aufgelöst hatte – nur dass sie Magie gewirkt hatte. »Sie scheint es zu glauben«, erwiderte er, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »Das ist der seltsamste Teil, ich weiß gar nicht, ob ich es glauben würde, wenn Shamera nicht Bruder Fykall gehabt hätte, der ihre Aussage bestätigt. Wie auch immer. Nachdem der Hohepriester gestorben war, hat etwas dessen Körper oder sein Erscheinungsbild übernommen. Shamera meint, dass es ein Dämon war. Er hat den Fehler begangen, sich in Altis’ Tempel zu wagen, und Bruder Fykall hat ihn zerstört.«
Für einen Lidschlag verzog sich Skys Mund vor Zorn. Hätte Kerim sie nicht eingehend beobachtet, wäre es ihm vermutlich nicht aufgefallen. Die Schuldgefühle, die er bei dem Gedanken verspürt hatte, Sky zu hintergehen, schmolzen dahin.
»Ich verdanke Shamera eine Menge – meine Gesundheit und sogar mein Leben. Aber« – er senkte den Blick, als überkäme ihn ein Anflug von Schüchternheit – »ich liebe sie nicht. Vergangene Nacht ist mir klar geworden, dass ich mit ihr reden und ihr sagen musste, was ich empfinde. Ich hatte es bereits zu lange so laufen lassen und deshalb Angst, ich würde sie verletzen.« Plötzlich grinste er. »Fast wünschte ich, du wärst dabei gewesen. Ich hatte damit gerechnet, mich der Xanthippe stellen zu müssen, die mit einem zerbrochenen Krug in der Hand auf mein Bett gesprungen war – und bekam es stattdessen mit einem Feilscher zu tun. Sie ließ mich sagen, was ich zu sagen hatte, dann lächelte sie und zählte mir Bedingungen auf, die sie für erbrachte Dienste als angemessen erachtete.« Kerim lächelte verführerisch. »Komm heute Nacht mit mir, Sky. Ich bin schon so lange nicht mehr am Meer gewesen. Die Geistebbe ist etwas, woran du dich für den Rest deines Lebens erinnern wirst.«