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Die Bande der Lehrzeit waren nicht gekappt worden, als sie zur Gesellin wurde, wie es sonst üblich war, denn nur der Meister konnte solche Bande lösen, und der Alte Mann war seit seiner Verkrüppelung außerstande gewesen, Magie zu beschwören. Sham hatte nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er in der Lage sein könnte, mit bereits gebündelter Magie zu arbeiten.

»Nimm, so viel du willst«, sagte sie und ließ die Hände an die Seiten sinken.

Als sich die von ihr angesammelte Macht in den Händen ihres Meisters konzentrierte, lächelte der greise Magier. Einen Atemzug lang sah sie ihn so wie beim ersten Maclass="underline" Macht vereint mit Weisheit und Güte.

Mit größter Bewunderung beobachtete sie, auf welch geschickte Art der Magier des Königs einen Abwehrbann wob, der ihrem ähnelte und doch unendlich vielschichtiger war – und das, ohne auf offensichtliche Bewegungen zur Unterstützung seiner Arbeit auszuweichen. Die weiteren auf seinem Körper erscheinenden Schnitte konnten ihn nicht aus der Konzentration reißen. Als er den Zauber beendete, erzitterte die Hütte unter der Gewalt des verärgerten, durchdringenden Aufschreis seines Angreifers. Zweimal noch versuchte der, gegen den Abwehrbann anzukämpfen, bevor Sham seine Magie nicht mehr wahrnahm.

Der Alte Mann brach auf dem Boden zusammen. Sham kniete sich fast so schnell hin, wie er gefallen war, und tastete ihn behutsam mit den Händen ab. Sie fand keine Wunden, die verbunden werden mussten, nur eine Vielzahl winziger, dünner Linien, aus denen sich das Lebensblut des alten Mannes auf den Boden ergoss. Ihre Bewegungen wurden verzweifelter, als sie die Unausweichlichkeit seines Todes erkannte – sie wurde ersichtlich durch das Blut, das gegen die Wände und auf den Boden gespritzt worden war.

Es gab keine ihr bekannte Magie, die ihn zu heilen vermochte. Die Heilrunen, die sie auf seine Brust zeichnete, würden zwar den Heilungsprozess beschleunigen, doch sie wusste, dass er längst tot wäre, bevor sein Körper damit beginnen könnte zu genesen. Sham versuchte es trotzdem. Die Anstrengung, die es sie kostete, so kurz nach dem Spielen der Flöte erneut Magie zu wirken, brachte ihre Hände zum Zittern, während sie die Runen zeichnete, die vor ihrer tränenverschleierten Sicht verschwammen.

»Genug, Shamera, genug.« Die Stimme des Alten Mannes hörte sich sehr schwach an.

Sie zog die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten. Sham wusste, dass er recht hatte. Vorsichtig bettete sie seinen geschundenen Kopf in ihren Schoß. Ohne auf das Blut zu achten, streichelte sie zärtlich die ledrige Haut seines Gesichts.

»Meister«, hauchte sie leise, und der Alte Mann verzog die Lippen erneut zu einem Lächeln.

Er würde es bedauern, sein kleines, trotziges Lehrlingsmädchen zu verlassen. Für ihn war sie noch so, wie er sie zuletzt gesehen hatte: ein Kind an der Schwelle zur Frau. Wenngleich ihm bewusst war, dass sie mittlerweile längst erwachsen und selbst eine Meisterin geworden war. Ihre Kindheit war zu Ende gegangen, als sie ihn aus dem Verlies gerettet hatte, in dem er blind, verkrüppelt und dem Tode nah gelegen hatte. Er musste sie warnen, bevor es zu spät war. Mit hart erkämpfter Stärke fasste er hoch und ergriff ihre Hand.

»Kleines«, sagte er. Aber seine Stimme klang zu leise – es machte ihn wütend, so schwach zu sein, und aus dieser Wut bezog er Kraft. »Shamera, Tochter meines Herzens.« Es ertönte kaum lauter als ein Flüstern, doch aus ihrer Reglosigkeit konnte er ablesen, dass sie ihn trotzdem gehört hatte. »Es war der Chen Laut, der hier gewesen ist. Du musst ihn finden, Kind, oder er zerstört …« Kurz verstummte er, um genug Kraft für den Rest zu sammeln. »Er ist … diesmal nahe dran, sonst wäre er nicht das Wagnis eingegangen, mich anzugreifen. Hast du verstanden?«

»Ja, Meister«, antwortete sie leise. »Chen Laut.«

Er entspannte sich in ihrer Umarmung. Dabei geschah etwas Wundersames. Die Magie – seine eigene Magie –, die sich ihm so viele Jahre entzogen hatte, kehrte durch den Wall der Schmerzen zurück, als wäre sie ihm nie entrissen worden. Als er aufhörte, um Atem zu ringen, umgab ihn die Macht und tröstete ihn, wie sie es immer getan hatte. Mit einem Seufzen der Erleichterung, der Erlösung gab er sich ihrer Umarmung hin.

Shamera beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie der alte Magier sie verließ, wie sein Körper in ihren Armen erschlaffte. Kaum war er fort, legte sie seinen Kopf behutsam auf den Boden und begann, seinen Körper gerade auszurichten, als spiele es eine Rolle, in welcher Haltung der Alte Mann für seinen Scheiterhaufen dalag. Als sie damit fertig war, kniete sie zu seinen Füßen nieder und neigte das Haupt, um ihre Achtung zu zeigen.

Dann ließ sie das Magierlicht erlöschen und saß in der Dunkelheit beim Leichnam ihres Meisters.

Das Geräusch von Stiefeln auf Bodenbrettern riss Shamera aus ihrem Dämmerzustand. Wie betäubt beobachtete sie, wie vier Stadtgardisten den kleinen Raum mit Fackellicht fluteten.

Zu spät wurde ihr klar, dass sie hätte verschwinden sollen, als es ihr noch möglich war. Blut durchtränkte ihre Kleidung, und ohne weitere Zeugen war sie die wahrscheinlichste Verdächtige. Aber sie befand sich hier in Fegfeuer; sie konnte sich den Weg freikaufen. Geld stellte kein Problem dar. Der Alte Mann würde das Gold aus der Höhle ohnehin nicht mehr brauchen.

Vorsichtig stand Sham auf und drehte sich den Eindringlingen zu.

Drei stammten aus dem Osten, der vierte war ein Südwäldler, der sich anhand seiner langen Haare und dem Bart einfach von den anderen unterscheiden ließ. Alle vier hatten vertraute Gesichter, obwohl Shamera Mühe gehabt hätte, ihre Namen zu benennen, abgesehen vom offenkundigen Anführer – er wurde wegen des dreckigen Tuchs, das er über seinem fehlenden Auge trug, ›Lappen‹ genannt. Sie entspannte sich ein wenig: Man munkelte, dass er sich leichter als die meisten anderen kaufen ließ.

Lappen und einer der anderen aus dem Osten – hochgewachsen für seinesgleichen und skelettartig dünn, mit großen schwarzen Augen – betrachteten das Blut, das beinahe den gesamten Raum besudelt hatte, mit wachsendem Respekt. Während die anderen zwei sich umsahen, fixierten der Südwäldler und der Dritte aus dem Osten Sham weiterhin. Sie achtete darauf, die Arme weit vom Körper entfernt zu halten, um nicht den Anschein einer Bedrohung zu erwecken.

Lappen steckte seine Fackel in eine der leeren Wandhalterungen und bedeutete dem Südwäldler, es ihm mit der zweiten Fackel gleichzutun. Dann kratzte sich der Truppführer an der Stirn, drehte sich einmal um sich selbst und ließ den Raum auf sich wirken, bevor sich sein Blick wieder auf Sham richtete.

»Bei Altis’ Blut, Sham – wenn du beschließt, einen Mistkerl umzubringen, dann machst du es aber ordentlich.« Er räusperte sich und spuckte aus – eine Art von Anerkennung, glaubte Sham, als es ihr gelang, sein bruchstückhaftes Südwäldisch zu verstehen.

Bevor sie etwas erwidern konnte, betrat ein fünfter Mann den Raum, der die Gewänder eines Adeligen trug. Das breite Lächeln in seinem Gesicht ließ Sham unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.

Lappen schaute auf und bediente sich seiner Muttersprache Cybellisch. »Lord Hirkin, ich denke, der hier könnte nützlicher als die anderen sein, Herr. Das ist Sham, der Dieb – ich habe gehört, dass der Hai auf ihn aufpasst.«

»Gut, gut«, erwiderte Lord Hirkin, der Mann, der die Gardisten von Fegfeuer befehligte.

Er zeigte mit einer Geste in Shams Richtung, und Lappen trat hinter sie. Der sicherte sie, indem er die riesigen Hände um ihre Oberarme schlang.

Bei den Gezeiten, dachte Sham, das würde doch nicht so einfach werden. Sie hob sich ihre Trauer für später auf und widmete alle Aufmerksamkeit ihrer gegenwärtigen Lage.

»Nach genau so einem mordenden Dieb habe ich gesucht«, fuhr Hirkin fort und wechselte dabei für Sham ins Südländische. »Dieser Mann, der sich ›der Hai‹ nennt – du wirst mir sagen, wo ich ihn finde.«

Sham zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, wo er sich aufhält – das weiß niemand. Wenn du ihn haben willst, dann hinterlasse eine Nachricht für ihn bei einem der Flüsterer.«