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»Ich stamme aus einer Stadt«, konterte Sharpe beleidigt.

Vivar lachte, sagte jedoch nichts.

Um Mitternacht überquerten sie die Straße, die zum Meer führte, und entdeckten Anzeichen dafür, dass die Franzosen dort bereits vorbeigekommen waren. Die morastige Oberfläche der Straße war von den Kanonenlafetten zerfurcht worden und dann festgefroren. Zu beiden Seiten zeigten weiße Erhebungen an, wo man Leichen unbestattet zurückgelassen hatte. Kein Feind ließ sich blicken, keine Lichter einer Stadt oder eines Dorfes waren im Tal zu sehen. Die Soldaten waren in der unendlichen weißen Kälte allein.

Eine Stunde darauf gelangten sie an einen Fluss, an dessen Ufern niedrige, kahle Eichen wuchsen. Vivar ging in östlicher Richtung auf Kundschaft, bis er eine Stelle gefunden hatte, wo das eiskalte Wasser flach über ein von Felsen gesäumtes Kiesbett floss, das den erschöpften Männern einen gewissen Halt bot. Ehe er jedoch auch nur einem Mann gestattete, die Überquerung zu versuchen, zog er eine kleine Phiole aus seinem Beutel. Er entkorkte sie, dann träufelte er daraus eine Flüssigkeit in den Fluss. »Jetzt ist die Gefahr gebannt.«

»Gefahr?« Sharpe war verblüfft.

»Weihwasser, Lieutenant. Der Dorfpriester hat es mir gegeben.« Vivar schien anzunehmen, dass diese Erklärung ausreichte, aber Sharpe wollte mehr wissen.

»Natürlich geht es um die Xanas«, sagte der Spanier. Dann drehte er sich um und befahl seinem Sergeant vorauszugehen.

»Xanas?« Sharpe verhaspelte sich beim Aussprechen des seltsamen Wortes.

»Wassergeister.« Vivars Stimme klang todernst. »Sie leben in jedem Wasserlauf, Lieutenant, und können Unheil stiften. Wenn wir sie nicht verjagen würden, könnte es sein, dass sie uns in die Irre führen.«

»Gespenster?« Sharpe konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

»Nein. Ein Gespenst, Lieutenant, ist ein Geschöpf, das nicht von der Erde loskommt. Ein Gespenst ist eine gepeinigte Seele, jemand, der sich zu Lebzeiten gegen die heiligen Sakramente vergangen hat. Eine Xana war nie ein Mensch. Eine Xana ist ...«, er zuckte mit den Schultern, »... ein Lebewesen. Wie ein Marder oder eine Wasserratte. Etwas, das im Wasser lebt. So etwas muss es doch in England gewiss auch geben?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Vivar blickte entsetzt drein, dann bekreuzigte er sich. »Wollen Sie als Nächster gehen?«

Sharpe überquerte ungefährdet von bösen Geistern den reißenden Fluss und sah anschließend zu, wie seine Rifles folgten. Sie vermieden es, ihn anzusehen. Sergeant Williams, der den Tornister eines Verwundeten trug, nahm lieber den Weg durch tieferes Wasser, als dort die Böschung zu erklimmen, wo der Offizier stand.

Das Maultier wurde über den Fluss getrieben, und Sharpe fiel auf, mit welcher Umsicht die Soldaten die mit Öltuch umwickelte Truhe bewachten. Er nahm an, dass sie Major Vivars Kleider und Habseligkeiten enthielt. Harper, der immer noch an dem Packtier festgebunden war, spuckte ihm vor die Füße, eine Geste, die zu ignorieren Sharpe vorzog.

»Nun geht es bergan«, sagte Vivar mit einem Anflug von Befriedigung, als müsse man sich auf die bevorstehenden Strapazen freuen.

Sie marschierten bergan. Sie kämpften sich ein steil ansteigendes Tal empor, wo Steine vom Eis glänzten und die Bäume Schnee auf ihre Köpfe herabrieseln ließen. Der Wind frischte auf, und der Himmel bewölkte sich erneut.

Schneeregen setzte ein. Der Wind heulte ihnen um die verhüllten Ohren. Einzelne Männer schluchzten vor Elend und Anstrengung, aber irgendwie hielt Vivar sie auf Trab.

»Aufwärts! Aufwärts! Wo die Kavallerie nicht hinkann, hab ich recht? Weiter! Höher! Gesellen wir uns zu den Engeln! Was ist los mit dir, Marcos? Dein Vater wäre diesen Hang hinaufgetanzt, als er doppelt so alt war wie du! Willst du die Engländer glauben lassen, ein Spanier hätte keine Kraft? Schäm dich! Weitersteigen!«

Gegen Morgengrauen hatten sie einen Bergsattel erreicht. Vivar führte die ermüdeten Männer zu einer Höhle, die von vereisten Lorbeerbäumen verborgen wurde.

»Hier habe ich einen Bären erlegt«, teilte er Sharpe voller Stolz mit. »Ich war zwölf, und mein Vater hat mich auf eigene Faust losgeschickt, einen Bären zu töten.« Er riss einen Zweig ab und warf ihn den Männern zu, die dabei waren, eine Feuerstelle zu errichten. »Das war vor zwanzig Jahren.« Er sagte dies mit einer Art Verwunderung darüber, dass seither so viel Zeit vergangen war.

Sharpe überlegte, dass Vivar genauso alt war wie er selbst, dass er es jedoch, weil er von Adel war, bereits zum Major gebracht hatte, während Sharpe aus der Gosse kam und nur durch eine außergewöhnliche Fügung des Schicksals zum Lieutenant ernannt worden war. Er bezweifelte, dass er eine weitere Beförderung erleben würde. Und angesichts seines Versagens im Umgang mit diesen Grünjacken glaubte er auch nicht, dass er eine Beförderung verdient habe.

Vivar überwachte, wie die Kiste vom Rücken des Maultiers genommen und am Eingang der Höhle abgestellt wurde. Er setzte sich neben sie und legte schützend den Arm um ihren bauchigen Deckel. Seine Haltung gegenüber der Truhe hatte, wie Sharpe nun auffiel, beinahe etwas Ehrfürchtiges. Gewiss, dachte Sharpe, würde kein Mann, nachdem er die eisige Hölle ertragen hatte, durch die Vivar gegangen war, mit so viel Sorgfalt eine Truhe schützen, wenn diese nichts als Kleider enthielt.

»Was ist da drin?«, fragte Sharpe.

»Nur Papiere.« Vivar blickte hinaus in den heranbrechenden Morgen. »Der moderne Krieg bedeutet Papierkrieg, nicht wahr?«

Das war keine Frage, die eine Antwort verlangte, sondern ein Kommentar, der geeignet war, weitere Fragen im Keim zu ersticken. Sharpe stellte jedenfalls keine mehr.

Vivar nahm seinen Dreispitz ab und zog vorsichtig eine halb gerauchte Zigarre aus dem Schweißleder. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, weil er keine weitere Zigarre besaß, die er Sharpe anbieten konnte, dann steckte er sie mithilfe seiner Zunderbüchse an. Der scharfe Tabakgeruch kitzelte Sharpe in der Nase.

»Die hab ich mir aufgehoben«, sagte Vivar, »bis ich der Heimat nahe bin.«

»Sehr nahe?«

Vivar schwenkte die Zigarre so, dass der gesamte Ausblick einbezogen wurde. »Mein Vater hat über dieses ganze Land geherrscht.«

»Werden wir zum Haus Ihres Vaters marschieren?«

»Ich hoffe, Sie vorher noch sicher auf den Weg nach Süden zu bringen.«

Sharpe, den die Neugierde der Armen auf die adligen Reichen plagte, fühlte sich eigenartig enttäuscht. »Ist es ein großes Haus?«

»Welches Haus?«, fragte Vivar trocken. »Es sind drei, und jedes ist groß. Eines ist eine Burg, eines steht in der Stadt Orense und eines auf dem Land. Sie alle gehören meinem Bruder, aber Tomas hat Galicien nie geliebt. Er zieht es vor, dort zu leben, wo es Könige und Höflinge gibt, deshalb kann ich mit seiner stillschweigenden Duldung behaupten, dass diese Häuser mir gehören.«

»Sie Glücklicher«, sagte Sharpe verdrossen.

»Weil ich in einem großen Haus lebe?« Vivar schüttelte den Kopf. »Ihr Haus mag kleiner sein, Lieutenant, aber wenigstens können Sie es Ihr eigen nennen. Meines steht in einem Land, das die Franzosen erobert haben.« Er richtete den Blick auf den Schützen Harper, der immer noch, am Schwanz des Maultiers festgebunden, im feuchten Schnee kauerte. »Genau wie sein Land von den Engländern erobert wurde.«

Die Bitterkeit dieser Anschuldigung überraschte Sharpe, der angefangen hatte, den Spanier zu bewundern, und über seine plötzliche Feindseligkeit aus der Fassung geriet.

Vielleicht war Vivar selbst der Meinung, dass er zu schroff geworden sei, jedenfalls bedachte er Sharpe mit einem reuigen Schulterzucken. »Sie müssen verstehen, die Mutter meiner Gemahlin war Irin. Ihre Familie hatte sich hier niedergelassen, um Ihrer Gerichtsbarkeit zu entgehen.«

»Haben Sie so Englisch gelernt?«

»So und bei guten Lehrern.« Vivar zog an seiner Zigarre. Ein Schneerutsch, ausgelöst von dem Feuer in der Höhle, glitt vom Felsvorsprung über dem Eingang. »Mein Vater war der Ansicht, wir müssten die Sprache des Feindes sprechen«, sagte er mit gequält wirkender Belustigung. »Es erscheint seltsam, dass Sie und ich jetzt auf einer Seite kämpfen sollen, nicht wahr? Ich wurde im Glauben erzogen, die Engländer seien heidnische Barbaren, Feinde Gottes und des wahren Glaubens, und nun muss ich mir einreden, dass sie unsere Freunde sind.«