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Sharpe wusste, wie er so dastand auf der einsamen, windigen Hochebene, dass ihm von Major Vivar ein Geschenk dargeboten wurde. Möglich, dass es keine Richtlinien für das Verhalten eines Offiziers gab, dass den besten Offizieren ihre hervorstechenden Fähigkeiten angeboren waren, aber der Spanier bot Sharpe einen Schlüssel zum Erfolg an. Er spürte den Wert dieses Geschenks und lächelte. »Danke.«

»Spielregeln!«, fuhr Vivar fort, als habe Sharpe nichts gesagt. »Spielregeln machen aus den Männern wahre Soldaten, nicht Kindesmörder wie diese Schweinehunde.« Er versetzte dem toten Franzosen einen Tritt, dann erschauerte er. Andere französische Gefallene wurden über den Schneematsch gezerrt, ihrem flachen Grab entgegen. »Ich werde veranlassen, dass einer meiner Männer aus angesengtem Holz ein paar Kreuze herstellt.«

Wieder war Sharpe von diesem Mann überrascht. Im einen Moment trat er nach dem nackten Leichnam eines Feindes und im nächsten traf er Vorsorge, dass die Gräber eben dieser Feinde mit Kreuzen bestückt wurden.

Vivar bemerkte seine Überraschung. »Das hat mit Respekt nichts zu tun, Lieutenant.«

»Nicht?«

»Ich fürchte ihre estadeas, ihre Seelen. Die Kreuze werden dafür sorgen, dass ihre schurkischen Seelen unter den Erdboden gebannt bleiben.« Vivar spuckte den Leichnam an. »Sie mögen mich für einen Narren halten, aber ich habe sie gesehen, Lieutenant. Die estadeas sind die verlorenen Seelen der Verdammten, und im nächtlichen Dunst sehen sie aus wie eine Myriade Kerzen. Ihr Stöhnen ist noch entsetzlicher als dies.« Er wies mit dem Kopf in Richtung Dorf, wo ein weiterer Todesschrei ertönte. »Um dessentwillen, was sie den Kindern angetan haben, Engländer, haben sie Schlimmeres verdient.«

Sharpe hatte keine Einwände gegen die Rechtfertigung, die der Major vorbrachte. »Warum haben sie das nur getan?« Er konnte sich nicht vorstellen, selbst jemals ein Kind zu töten, und ihm blieb unbegreiflich, wie einem Mann eine solche Tat auch nur im Traum einfallen konnte.

Vivar entfernte sich von den Leichen der Franzosen und trat an den Rand des kleinen Plateaus, auf dem die Kavallerie zum Sturmangriff angesetzt hatte. »Als die Franzosen hierherkamen, Lieutenant, waren sie unsere Verbündeten. Gott möge unsere Torheit strafen, aber wir haben sie hereingebeten. Sie kamen, um unsere Feinde anzugreifen, die Portugiesen. Doch einmal im Land, beschlossen sie zu bleiben. Sie dachten, Spanien sei schwach, dekadent, wehrlos.« Vivar unterbrach sich und blickte unverwandt in die große Leere, die vor ihm im Tal herrschte. »Und vielleicht waren wir wirklich dekadent. Nicht das Volk, Lieutenant. Glauben Sie das nicht, niemals! Sondern die Regierung.« Er spuckte aus. »Aus diesem Grund haben uns die Franzosen verachtet. Sie dachten, wir wären eine reife Frucht, die es zu pflücken galt, und vielleicht waren wir genau das. Unsere Armeen?« Vivar zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Soldaten können nicht kämpfen, wenn sie schlecht geführt werden. Aber das Volk ist nicht dekadent. Das Land ist nicht dekadent.« Er rammte den Absatz in den schneebedeckten Boden. »Dies ist Spanien, Lieutenant, an dem Gott Wohlgefallen hat, und Gott wird uns nicht im Stich lassen. Warum, glauben Sie, haben Sie und ich heute gesiegt?«

Das war eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wurde, also verzichtete Sharpe darauf.

Vivar spähte zu den fernen Hügeln hinüber, wo sich die ersten Schauer als dunkle Stellen am Horizont abzeichneten.

»Die Franzosen haben uns verachtet«, nahm er seinen Gedanken wieder auf, »aber sie haben gelernt, uns zu hassen. Sie haben festgestellt, dass man in Spanien keine leichten Siege erringt. Sie haben sogar gelernt, Niederlagen einzustecken. Wir haben in Bailen ein ganzes Heer zur Kapitulation gezwungen, und als sie Saragossa belagert haben, wurden sie vom Volk in die Knie gezwungen. Das werden die Franzosen uns niemals verzeihen. Nun überfluten sie uns mit Heerscharen und glauben, uns schlagen zu können, indem sie uns alle umbringen.«

»Aber warum töten sie die Kinder?« Sharpe konnte die Erinnerung an die kleinen, verstümmelten Körper nicht loswerden.

Vivar verzog bei dieser Frage das Gesicht. »Sie kämpfen gegen Männer in Uniform, Lieutenant. Sie wissen, wer Ihr Feind ist, weil er Ihnen zuliebe einen blauen Rock anzieht und als Zielscheibe für Ihre Gewehre goldene Tressen an diesen Rock hängt. Die Franzosen dagegen wissen nicht, wer ihre Feinde sind. Jeder Mann, der ein Messer besitzt, könnte ihr Feind sein, und daher fürchten sie uns. Und um uns im Zaum zu halten, lassen sie sich hinreißen, den Preis für feindseliges Verhalten zu hoch anzusetzen. Sie lassen sich hinreißen, in Spanien immer größere Angst zu verbreiten, Angst vor dem hier!« Er drehte sich um und deutete auf die Rauchfahne, die nach wie vor aus dem Dorf aufstieg. »Sie fürchten uns, aber sie versuchen, uns noch größere Furcht vor ihnen einzuflößen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es ihnen noch.«

Der plötzliche Pessimismus kam überraschend bei einem Mann, der sonst so selbstbewusst war wie Blas Vivar.

»Glauben Sie wirklich?«, fragte Sharpe.

»Ich glaube, dass die Menschen Grund haben, den Tod ihrer Kinder zu fürchten.« Vivar, der seine eigenen Kinder hatte begraben müssen, sprach mit tonloser Stimme. »Andererseits glaube ich nicht, dass die Franzosen Erfolg haben werden. Im Augenblick sind sie siegreich, und das spanische Volk betrauert seine Kinder und fragt sich, ob es noch Hoffnung gibt. Wenn man diesem Volk jedoch nur einen kleinen Funken Hoffnung eingeben kann, wird es sich zur Wehr setzen!« Die letzten Worte stieß er wütend hervor, dann überkam ihn ein blitzartiger Stimmungswechsel. Er lächelte Sharpe kleinlaut an. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«

»Aber natürlich.«

»Der Ire, Patrick Harper. Lassen Sie ihn frei.«

»Frei?« Sharpe war verblüfft, weniger über die geäußerte Bitte als vielmehr über die plötzliche Veränderung in Vivars Benehmen. Noch vor einem Moment war er rachgierig und stahlhart gewesen, und nun verhielt er sich zaghaft höflich wie ein Bittsteller.

»Ich weiß«, fügte Vivar hastig hinzu, »dass das Vergehen des Iren schwerwiegend ist. Er verdient es, halb zu Tode geprügelt zu werden, wenn nicht darüber hinaus, aber er hat eine Heldentat vollbracht, der ich großen Wert beimesse.«

Peinlich berührt von Vivars unterwürfigem Tonfall, räusperte sich Sharpe. »Aber natürlich.«

»Ich werde mit ihm sprechen und ihn auf seine Gehorsamspflicht aufmerksam machen.«

»Er kann freigelassen werden.« Sharpe war ohnehin schon halb überzeugt von der Notwendigkeit, Harper laufen zu lassen, und sei es nur, um Sergeant Williams zu beweisen, wie vernünftig sein Vorgesetzter sein konnte.

»Ich habe ihn bereits freigelassen«, gab Vivar zu, »aber ich hielt es für angebracht, Ihre Zustimmung einzuholen.« Er grinste, merkte, dass Sharpe keinen Einspruch erhob, und bückte sich nach einem herumliegenden französischen Helm. Er riss den Überzug aus Leinwand herunter, der das edle Messing schützte und außerdem verhinderte, dass es das Sonnenlicht reflektierte und die Position der Dragoner verriet. »Schöner Tand«, sagte er mit schneidender Stimme, »den können Sie sich ins Treppenhaus hängen, wenn der Krieg vorbei ist.«

Sharpe hatte kein Interesse an einem verbeulten Dragonerhelm. Ihm wurde soeben bewusst, dass die »Heldentat von großem Wert«, die Harper in Vivars Augen begangen hatte, darin bestand, die Truhe zu beschützen. Er erinnerte sich an das Entsetzen im Gesicht des Spaniers, als dieser geglaubt hatte, die Truhe könne verloren sein. Wie ein Sonnenstrahl, der durch eine Lücke zwischen dunklen Wolken bricht, dämmerte bei Sharpe endlich die Erkenntnis. Der Gardeoffizier war auf der Jagd nach Vivar gewesen, und diese Jagd hatte die Dragoner gegen ihren Willen auf die Nachhut des britischen Heers treffen lassen. Bei der Gelegenheit hatten sie nebenbei vier Schützenkompanien aufgerieben, und dann hatten sie ihren Weg fortgesetzt. Nicht hinter den zurückweichenden Briten, sondern hinter der Schatztruhe her.